Zu Hause

Und der unergründlichste Geruch ist der nach ‚zu Hause‘. Er steigt einem in die Nase, wenn man nach dem beinahe monatelangen Sommerurlaub das Treppenhaus des Mietshauses betritt und die Koffer nach oben trägt, fast ununterscheidbar vermischt mit dem vertrauten Geräusch des Treppenknarzens, denn jede Stufe hat ihren wohlbekannten, aber in Vergessenheit geratenen Ton. Bei jedem Schritt die Treppe hinan wird der Geruch stärker. Und er schlägt einem beim Öffnen der Wohnungstür entgegen, ein etwas abgestandener Geruch nach zu Hause, der einen empfängt, auf den man gewartet und gehofft hat und den man sich doch gar nicht mehr vorstellen konnte. Man stellt die Koffer in die nächste Ecke und schnüffelt ein wenig, macht vielleicht eine Bemerkung zu denen, die mit einem in dieses ‚zu Hause‘ zurückgekehrt sind, jedenfalls wird man sich bewusst, dass dieser Geruch überhaupt nur in jenem Moment wahrnehmbar ist und morgen wieder vergessen sein wird, nicht verschwunden, aber verschleiert.

Und der stärkste Geruch ist natürlich der der Kindheit, der in den man nach den Schulferien zurückkehrt, in die Wohnung welche man mit den Eltern bewohnt. Ein Stück dieses Geruchs trägt man wohl mit sich fort, wenn man auszieht, ein Stück nimmt man mit und es taucht wieder auf im neuen zu Hause, aber so intensiv wie in der Kindheit wird er niemals wieder sein. In der Kindheit, mit acht oder zehn, da setzt man sich benommen an den Küchentisch, von der langen Fahrt und weil man keine Koffer mehr tragen möchte, man atmet tief ein und versucht ein bisschen zu genießen, dass man wieder zu Hause ist, auch wenn es schwer ist und man sich ein klein wenig zusammennehmen muss, um nicht doch in Tränen auszubrechen. Man ist erschöpft von der langen Fahrt und davon, dass man sich ein wenig übernommen hat mit den Koffern, weil man dem Vater zeigen wollte, wie stark und tapfer man ist.

Man denkt an das Ferienhaus im Süden zurück und an die monatelange Hitze – zumindest erscheint es einem im Nachhinein als eine unwahrscheinliche Hitze, im Nachhinein als monatelang – an den Frieden, das Nichtstun und das lange Schlafen unter dem dünnen weißen Laken, unter dem Dach, mit den Schwalben, die einen des Morgens weckten und die man vom Fenster aus beobachtete, an das Rauschen des Meeres und die Ruhe, in der so viele Gedanken zu einem kamen. An das Liegen, Dösen und ununterbrochene Lesen vor allem, im Bett, im Sand, in der Wiese, auf einer Klippe oder auf dem Fenstersims der Burgruine. Man denkt an den Geruch des Südens, an wildwachsenden Lavendel, Rosmarin und Thymian, an den Duft des frischen Baguettes am Morgen aber auch den des Hundekots in den engen, verwinkelten Gassen des Dorfes. Und an den Duft der geteerten Straßen nach einem kurzen, warmen Gewitter. Man denkt an das Fell der Katze, in die man sich in diesem Sommer verliebt hat, an ihr Maunzen und dass man sie trotzdem nicht mitnehmen durfte. Man denkt an frische Trauben aus dem Weinberg, gestohlen und an selbst geknackte Mandeln, mit einem Stein aufgeschlagen und an die vom Baum gepflückten Feigen, die vom Strauch gezupften Brombeeren. Und man denkt an den Abschied, vom Haus, vom Dorf, von den Nachbarn, vom Sommer und den Ferien, so viele Abschiede. Man denkt an die lange Fahrt, zwölf Stunden beinahe, und die ersten Regengüsse dieses Herbstes, die einen im Stau der deutschen Autobahn begrüßten, ganz plötzlich ist es kalt und grau und Herbst. Und man beginnt sich Gedanken um die Schule zu machen, die ja bald wieder anfangen muss und die so weit zurücklag, jetzt ist wieder alles ernst und nicht mehr pflichtlos süß. Eine Weile bleibt man also benommen am Küchentisch sitzen und atmet den Geruch, der einen so glücklich-unglücklich macht, bis man sich entschließt, dass es eben weitergehen müsse.

Dann geht man kurz in sein Zimmer, alles ist wie immer, unverändert, und genau das bedrückt einen. Die Eltern packen schon aus, die Lebensmittel zuerst und man selbst soll auch bald seinen Koffer auspacken, aber genau das mag man nicht. Das wäre endgültig, der Vollzug, die Bestätigung der Rückkehr, so als wäre man nie fort gewesen, alle äußeren Anzeichen der Reise damit beseitigt. Man drückt sich also noch ein paar Stunden darum. Und dann, man ahnte es schon, kommt die nächste, immer-gleiche Hürde des Ankommens zu Hause: man solle die Post und den Briefkastenschlüssel von der Hausmeisterin holen und ihr dafür das kleine, im fremden, südlichen Land besorgte Geschenk zukommen lassen. Da ist man dann wiederum glücklich-unglücklich, denn an der Heimkehr ist nichts so spannend wie das Öffnen der Stapel an Post, die in der Ferienzeit gekommen sein müssen. Gleichzeitig beginnt man sich aber auch zu fürchten, vor der Hausmeisterin, vor dem Weg, vor dem Hund der Hausmeisterin, vor dem ganz-alleine Erfüllen dieser Aufgabe und die Eltern benötigen eine gute Portion ihrer Überredungskunst, bis man sich aufmacht.

Die Treppe hinab, durch den Innenhof, in dem immer noch dieser herbstliche Nieselregen fällt, und schon die leise Furcht, das Herz beginnt zu klopfen, wenn man das unbekannte, nur zu dieser einen Gelegenheit im Jahr betretene Treppenhaus des Hinterhauses erklimmt. Die Hausmeisterin ist nicht böse, man müsste sich nicht vor ihr ängstigen, aber man sieht sie nur selten; man spielt mit ihrem Enkel – er geht in die selbe Klasse und wohnt bei der Großmutter, von seinen Eltern weiß man nichts – im Hof und den schickt man auch den Ball holen, wenn er über die Mauer geworfen wird; und manchmal hört man die Hausmeisterin schreien, hört sie schreien und jammern, am Abend oder mitten in der Nacht, ihr Mann schreit noch lauter, die Wand zwischen Vorder- und Rückgebäude dämpft den Schall nur wenig, man liegt im Kinderzimmer und weiß nicht, was man machen, was man sich auch nur dazu denken soll; manchmal sieht man sie mit blauem Auge, mit geschwollener Unterlippe, aber man fragt sie nicht, man hat seltsamerweise kein Mitleid mit ihr, stattdessen fürchtet man sich, fürchtet sich auch vor ihr und dem, was da wohl mit ihr geschieht.

Aber man muss einmal im Jahr die Post holen und sucht im Dunkeln den Lichtschalter im fremden Treppenhaus des Hinterhauses, das so ganz anders ist, von so anderen Leuten bewohnt wird, und versucht beherzt hinaufzugehen und sich den starken Herzschlag nicht anmerken zu lassen und die Furcht. Und man drückt auf die Klingel und weiß schon den nächsten Schreck: der Hund der anfängt zu bellen, laut, man kennt keine Hunde, man mag keine Hunde, und wenn sich die Türe ein kleines Stück öffnet, dann sieht man erst die Schnauze des Hundes, zum Bellen geöffnet, und seine Zähne unter den Zotteln seines Barts. Und der Hund wird angeschrien, dass er mit dem Kläffen aufhören solle und man hat Angst, vor dem Hund, der sich durch den Spalt auf einen stürzen könnte, vor den Besitzern, die ihn zurückzuhalten versuchen und schreien, schon wieder schreien, man hat Angst. Und man sieht in den Spalt in die Wohnung und da ist der kläffende Hund und es riecht komisch, nicht nach zu Hause, komisch, es sieht unaufgeräumt aus und da steht der Mann der Hausmeisterin im Unterhemd da und sieht einen mit kleinen, missbilligend funkelnden Augen – könnte man meinen – an: “Ja?” und “Herrgott, jetzt halt‘ amal die Schnauze, Drecksviech!” zum Hund.

Dass man die Post abholen wolle und den Briefkastenschlüssel, stottert man und fühlt sich wie ein viel kleineres Kind, als man eigentlich ist. Da müsse er nachsehen, wo das seine Frau gelassen habe, brummt er und schließt die Tür erst einmal wieder, wegen dem Hund wahrscheinlich, was einen fast schon wieder erleichtert aber doch auch ein wenig unhöflich erscheint. Dann öffnet sich die Tür wiederum ein wenig und durch den schmalen Spalt wird einem eine Tüte hingestreckt: “Da müsst‘ der Briefkastnschlüssl auch drin sein…” sagt er und man bemüht sich noch eben mit ein paar freundlichen Worten das kleine Mitbringsel loszuwerden, die Herkunft aus dem Urlaubsland zu erklären und sich noch einmal herzlich für alles zu bedanken. Schließt sich die Tür endlich, dann rennt man auch schon die Stiege hinab, das Gebell des Hundes und ermahnende Gekeife des Besitzers beinahe überhörend, man presst die Tüte fest an seine Brust und trägt sie durch den Nieselregen, am immer noch stark pochenden Herzen geborgen, zurück, zurück nach ‚zu Hause‘. Da, wo es heute immer noch so riecht wie zu Hause, wo man sich an den Küchentisch setzen darf und die Post sortieren, für die Eltern und einen selbst und die Urlaubspostkarten der Klassenkameraden lesen und zu Hause sein, auch wenn man der monatelangen Hitze nachtrauern mag, zu Hause sein.

Und am nächsten Tag ist der Geruch schon wieder unwahrnehmbar, bald geht man wieder in die Schule, spielt im Hof, aber der Enkel der Hausmeisterin ist nicht mehr da und man hört die Hausmeisterin nachts nicht mehr schreien und jammern, es ist beklemmend ruhig nebenan, man sieht sie überhaupt nicht mehr, die Hausmeisterin; und die Klassenlehrerin sagt, dass der Enkel wohl nicht mehr käme und in einem Heim sei und man versteht das nicht; im Haus sagt man sich, der Alte werde wohl auch bald rausgeschmissen, könne die Miete nicht mehr zahlen, gebe sein ganzes Geld für Schnaps aus und die Hausmeisterin hört man gar nicht mehr, sieht man gar nicht mehr.

Der unergründlichste Geruch ist der nach ‚zu Hause‘. Wenn man eines hat.

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