Das Klavier

Und das Klavier steht schwarz und stumm in einer Ecke meiner Wohnung. Dennoch ist es nicht nur ein Möbelstück, es ist viel mehr. Das Klavier lebt bei mir. Es ist ein Hausgenosse und Mitbewohner, könnte man sagen, es gehört zur Familie. Denn es ist ein beseelter, sehr lebendiger Gegenstand. Das sage nicht nur ich, das sagt auch Nietzsche, von dem es eine schöne Anekdote gibt, die auch Thomas Mann in seinem ‚Doktor Faustus‘ verarbeitet hat.

Nietzsches Jugendfreund Paul Deussen berichtet nämlich, dass Nietzsche 1865 in Köln ‚versehentlich‘ von einem Kutscher statt in ein Restaurant in ein Bordell gebracht wurde (dafür sind heute dann die Taxifahrer zuständig). „Ich sah mich“, soll Nietzsche am folgenden Tag erzählt haben, „plötzlich umgeben von einem halben Dutzend Erscheinungen in Flitter und Gaze, welche mich erwartungsvoll ansahen. Sprachlos stand ich eine Weile. Dann ging ich instinktmäßig auf ein Klavier als auf das einzige seelenhafte Wesen in der Gesellschaft los und schlug einige Akkorde an. Sie lösten meine Erstarrung und ich gewann das Freie.“

Bei Thomas Mann und aus der Perspektive Adrian Leverkühns klingt das dann so:

„Ich schelle, die Thür geht von selber auf, und auf dem Flur kommt mir eine geputzte Madam entgegen, mit rosinfarbenen Backen, einen Rosenkranz wachsfarbener Perlen auf ihrem Speck, und begrüßt mich fast züchtiger berden, hocherfreut flötend und scharmutzierend, wie einen Langerwarteten, komplimentiert mich danach durch Portièren in ein schimmernd Gemach mit eingefaßter Bespannung, einem Kristall-Lüster, Wandleuchtern vor Spiegeln, und seidnen Gautschen, darauf sitzen dir Nymphen und Töchter der Wüste, sechs oder sieben, wie soll ich sagen, Morphos, Glasflügler, Esmeralden, wenig gekleidet, durchsichtig gekleidet, in Tüll, Gaze und Glitzerwerk, das Haar lang offen, kurzlockig das Haar, gepuderte Halbkugeln, Arme mit Spangen, und sehen Dich mit erwartungsvollen, vom Lüster gleißenden Augen an. Mich sehen sie an, nicht dich. Hat mich der Kerl, der Gose-Schleppfuß in eine Schlupfbude geführt! Ich stand und verbarg meine Affekten, sehe mir gegenüber ein offen Klavier, einen Freund, geh über den Teppich drauf los und schlage im Stehen zwei, drei Akkorde an, weiß noch, was es war…“ (Thomas Mann: Doktor Faustus, Frankfurt a.M.: Fischer 1997, S.191).

Dass Nietzsche selbst bestreitet, mit den Flitter-Mädchen auch nur irgendetwas zu tun gehabt zu haben und so die beliebte These, dass sich Nietzsche hier die Syphilis und damit den Wahnsinn ins Haus geholt habe, abstreitet, während Adrian sich in eine der Esmeralden verliebt und sich durchaus ansteckt, soll hier nicht weiter interessieren. Und auch nicht, dass damals Bordelle offenbar wunderhübsche Aufenthaltsräume mit Klavier und zuvorkommende ‚Wirtinnen‘ hatten. Auch über die hervorragende Schreibweise Thomas Manns, wie spaßig er bei allem Ernst ist und darüber, dass er noch sehr viel längere Sätze bauen konnte als ich, soll hier kein Wort verloren werden. Entscheidend ist vielmehr, dass Herrn Nietzsche das Klavier im Raum belebter und menschlicher erschien als die Gaze-Damen und Herrn Leverkühn sogar als einziger Freund in der Not.

Mein Verhältnis zu dem Klavier ist durchaus ähnlich freundlich und leidenschaftlich. Jemand, der sich damit auskennt, setzte sich vor mehreren Jahren mal an mein Klavier und meinte – als er sich vom Spiel wieder erhoben hatte – dass man dem Klavier, den Tasten, dem Anschlag anmerke, dass ich es mit Leidenschaft behandle. Man merke, dass ich meine Gefühle daran ausließe und das meinte er weniger esoterisch als vielmehr mechanisch und weniger rügend als anerkennend. Mag durchaus sein, dass ich manchmal auch roh mit ihm umgehe, meinem schwarzen Hausgenossen, und ihn mehr schlage als zum Klingen bringe. Grundsätzlich bin ich ihm aber doch eher liebevoll verbunden, schon seit dem ersten Blick. Verliebt habe ich mich da zu aller erst in seine Pedale.

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Die Pedale meines Klaviers sind eher klein, golden, hübsch nach außen geschwungen und ihre Spitzen von Socken glanzpoliert, sie verschwinden in grünem und rotem Filz, sie wirken antik und putzig an dem großen, dunklen Kasten. Zwar benutze ich sie auch gerne und ausgiebig – besonders das rechte – , was mich aber mehr entzückt, ist schlichtweg ihr Anblick. Ansonsten ist es ein ganz gewöhnliches Klavier, der Klang eher weich, nicht japanisch und ich glaube, es fühlt sich wohl in seiner Ecke. Und es bleibt nicht immer unbeschäftigt. Ich habe zwar zu spät angefangen zu spielen und war auch nie ehrgeizig genug, um wirklich gut zu werden, dennoch habe ich nie ganz damit aufgehört und mir ein kleines Repertoire angeeignet, das je nach Stimmung erprobt wird. Tatsächlich gibt es Tage, da habe ich nur nichts zu tun oder will nichts tun oder will irgendetwas anderes auf keinen Fall jetzt tun und dann greife ich einfach ins Notenregal und ziehe heraus, was ich finde.

Meist wähle ich das Stück aber nach dem Gefühl, das mich gerade beherrscht. Wenn ich glücklich und zufrieden bin, dann natürlich Mozart oder aber Yann Tiersen, wenn ich untröstlich bin dann Chopin, wenn ich ratlos bin Satie, wenn ich nachdenklich bin Debussy oder Ravel, wenn ich spielerisch bin Schostakowitsch, wenn ich romantisch bin Schumann oder Michael Nyman, wenn ich an Venedig denkeP7020008_blog.jpg Mendelssohn, bei Wut oder Leidenschaft (was ja eng verwandt ist) Piazzolla. So oder so ähnlich. Und zum Nachdenken Bach, immer Bach in den Schreib- und Lernpausen, wenn ich nicht weiter weiß, wenn ich mich nicht konzentrieren kann, wenn ich einen Einfall und Anstoß brauche. Denn nur bei Bach passiert das so perfekt und einfach, dass sich meine Gedanken vom Spiel lösen, dass meine Finger die Noten spielen, die Tasten greifen, ohne dass ich nachdenken muss, dass das alles einfach von selbst passiert und meine Gedanken schweifen können. Ich spiele dann wie automatisiert, den Blick fest auf die Noten gerichtet, aber mein Denken ganz wo anders. Dabei kommen mir oft die besten Ideen. Mein Kopf wird klar, denn meine Gefühle stecken im Klavier, im Spiel.

Was meine Nachbarn zu all dem sagen, weiß ich nicht und will ich wohl auch nicht so genau wissen.

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