Küsse

Ich habe mich verliebt in ihn. In den, der da vor mir her Fahrrad fährt. Es ist mitten in der Nacht, weit nach Mitternacht jedenfalls und wir fahren durch die Stadt, es ist kalt und ich friere in meinem dünnen Pullover. Eine frühe Herbstnacht schon. Ich mag es, wie er auf seinem Fahrrad sitzt, sehr aufrecht und ziemlich schräg, die eine Hand fast immer vom Lenker gelöst, manchmal in seine hintere Hosentasche gesteckt. Abenteuerlich, frei und stolz. Aber sein Rad quietscht, das Licht geht nicht, der dunkelrote Lack ist großflächig abgeplatzt und er fährt mit nur einem Pedal. Die Tretfläche aus Plastik fehlt, nur die metallene, runde Tretkurbel ragt noch hervor und es gelingt ihm seltsamerweise, diese so am Absatz seines Schuhs zu verhaken, dass er treten kann.

Wir fahren durch die Nacht und manchmal halten wir an, bleiben irgendwo stehen, auf einem Gehsteig, der menschenleeren Straße, um besser reden zu können, wir kennen uns erst ein paar Tage. Ich friere, aber ich sage nichts. Ich mag seine Art zu reden. Ich mag seine Stimme, wie er spricht und wie er mir zuhört. Ich mag es, mit ihm zu diskutieren, auch stundenlang und ich mag, was er denkt. Ich höre ihm gerne zu, auch wenn ich friere.

Und ich fahre gerne hinter ihm und sehe ihm beim Fahren zu. Nach und nach arbeiten wir uns durch die Stadt vor, bis wir beim Nymphenburger Kanal anlangen und vom Rad steigen. „Sag mir alles, was Du weißt,“ möchte ich ihm zurufen, „ich will Dir mein ganzes Leben erzählen, alles, nur für Dich.“ Aber ich schweige. Wir reden über Musik, die er mag und die wir schon gehört haben, beide nebeneinander auf dem Teppichboden sitzend, in seinem Zimmer, an dessen Tür geschrieben steht: „Am Ende bin ich nur ich selbst.“ Ich mag, wie er Musik hört und ich mag, wie er darüber sprichst und ich erwähne nicht, wie lange ich mich schon nach ihm sehne.

Wir gehen am Kanal entlang, redend, frierend, das Wasser ganz dunkel, bis wir am Hubertusbrunnen angekommen sind. Die Stufen sind kalt und ein wenig feucht von der Nachtluft, aber der Blick ist schön und wir rücken näher zusammen. Ich liebe seinen Geruch. Ich mag es, wie er mich ansieht und ich könnte ihn stundenlang einfach nur anschauen. Ich mag seine Augen und seine Wimpern und seine Lippen und wie sie sich bewegen beim Sprechen. Ich mag seine kleinen Ohren und sein weiches Haar, seine Bartstoppeln. Ich mag seine Hände und ich will ihn berühren, jetzt. Vorsichtig schiebe ich meine Hand in seine, sehe ihn an, lausche seinem Atem. Er erzählt weiter, reagiert kaum, hält meine Hand aber fest in seiner, erst dann verstummt er. Ich mag es, mit ihm zu lachen, wie vorhin und ich mag es, mit ihm zu schweigen, wie gerade eben. Es stimmt, dass ich ihn nicht kenne, aber ich glaube, ich könnte ihn lieben, wenn ich ihn kennenlernen würde, kennenlernen dürfte. Ich möchte ihn kennenlernen, immer wieder.

Mir ist so kalt, dass ich zu zittern beginne in der Herbstnacht, aber das ist egal jetzt. Ich will ihn weiter ansehen und weiter seinen Geruch atmen. Ich möchte irgend etwas für ihn sein. Und ich kann nicht so lange warten, ich will nicht. Ich habe keine Wahl, ich muss mutig sein, denke ich. Kurzentschlossen neige ich mich vor und dann berühren meine Lippen die seinen, schöne Lippen, weiche Lippen, die ich sanft küsse, ich warte. Er küsst mich zurück, endlich, und so sitzen wir da, in der Kälte der Nacht, drei Uhr morgens, auf den Stufen des Hubertusbrunnens, vor uns das dunkle Wasser und knutschen. Sehen uns ungläubig und gläubig in die Augen und knutschen wieder.

Ich merke, dass ich ihn immer noch mag, immer mehr, seinen Geruch, seine Lippen, seine Zunge, seine Hände und Arme, die sich jetzt um mich gelegt haben, so wie die meinen um ihn. Meine Augen geschlossen und ganz hingegeben an das Küssen in der Stille. Ich möchte ihm sagen, dass ich ihn liebe, aber ich weiß, es ist zu früh dafür, auch wenn ich mir jetzt schon sicher bin. Ich sehne mich nach seinen Küssen in meinem Nacken, nach seinen Berührungen, nach seiner Haut und ich weiß, dass es nicht weit ist, zu ihm nach Hause. Dort könnte es warm sein, sehr nah und sehr neu.

Wir gehen zu unseren Fahrrädern, ich habe das Gefühl zu torkeln, so pulst das Blut durch meine Adern, so betäubt bin ich von seinen Küssen, so benommen von seinem Geruch. Wir fahren bis zu jener großen Kreuzung, an der man nur noch ein Stück nach rechts muss, um zu ihm zu kommen, dorthin, wo wir schon einmal auf dem Teppichboden seine Musik gehört haben, und er hält an. Ich wundere mich. Wir stehen nebeneinander, die Fahrräder zwischen den Beinen balancierend und er sagt nur: „Ich muss jetzt nach rechts.“ Ich nicke, das weiß ich auch. Wir schweigen uns kurz an, ich sehe ihm in die Augen, es dauert bis ich begreife. „Und ich?“, frage ich. „Du musst nach links, wenn ich mich nicht täusche.“ Ich nicke wieder. Ich bin niemand der sich aufdrängt, aber ich bin auch keine, die es schon einmal erlebt hätte, dass sie ein Mann nach Hause schickt. Er steht da und wirkt ein wenig ratlos, ich wundere mich und nicke noch einmal. „Komm gut nach Hause,“ sagt er, „und dann auch mal wieder her.“

Ich winke nur kurz und fahre dann los, immer geradeaus, ich blicke mich nicht um, ich friere immer noch und fahre sehr schnell. Jetzt bin ich mir noch sicherer, dass ich ihn haben will.

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