Du

"Hast Du keine Angst?", frage ich Dich und sehe Dir in die Augen. Bekomme aber keine Antwort. Seit vierzehn Jahren war das Vergangenheit, Du und ich. Damals hatte ich Dich gefragt, was wohl wäre, wenn wir uns jemals aus den Augen verlieren und dann nach langer Zeit wiedertreffen sollten. "Ich würde mich sofort wieder in Dich verlieben", hattest Du gesagt, mich in den Arm genommen, nicht mehr losgelassen. Ich hatte genickt. "Ich auch. Aber ich lass Dich nicht mehr gehen, nie mehr."

Damals dachten wir, dass wir ohnehin für immer zusammen bleiben würden, immer und ewig, Du und ich. Ich Deine Erste und Du mein Erster. Mein erster Mann, meine erste Liebe. Die erste Liebe ist immer die letzte. Alles was danach kommt, ist nur noch eine desillusionierte Kopie, der verzweifelte Versuch einer Wiederholung, die hoffnungslose Sehnsucht nach etwas Verlorenem. Nichts ist noch einmal wie beim ersten Mal, nichts. Nicht die heimlichen Blicke, nicht das verschwörerische Flüstern, nicht das beglückte Lächeln, nicht die Intensität der Berührungen, nicht das Küssen und dieser Geschmack nach Erdbeereis, nichts. "Meine Eine und Einzige", hast Du mich damals genannt und es war uns nicht einmal aufgefallen, dass dies nur eine billige Übersetzung aus dem Englischen war. Du hattest es so gemeint. Und ich hatte es geglaubt. Mein Einziger.

Kann man denn wirklich so unglaublich jung sein, frage ich mich jetzt, nach vierzehn Jahren. Tatsächlich eine zufällige Begegnung, tatsächlich ein sofortiges Erkennen zwischen uns, eine Anziehung, magnetisch, und jetzt nebeneinander liegen. Aber das mit dem Verlieben will einfach nicht wieder klappen. Du bist nicht mehr Der und ich nicht mehr Die. Aber wir könnten ja Freunde werden jetzt. "Sag mal", fragst Du zurück, "stört es Dich, wenn ich, nur so ganz freundschaftlich, meine Hand auf Deinen Hintern lege?" Ich habe auf meine Frage keine Antwort bekommen und sehe Dir noch immer in die Augen. Ich finde nicht, was ich erwarte. Ich nicke nur. Du hast keine Angst. Ich habe einen Freund und Du, bei Dir weiß man das nicht so genau, aber das ist egal, jetzt.

"Fühlt sich immer noch so gut an", sagst Du. Ich lächle nur. Ich bin nicht mehr verliebt in Dich und auch nicht wieder. Du hast etwas zugenommen in den letzten vierzehn Jahren und ich wahrscheinlich auch. Auch das ist egal, jetzt. Du riechst noch immer wie früher. Dein Geruch macht mich träumen. Ich nähere meinen Schoß dem Deinen an, um so nahe an Dich heranzukommen, dass ich meine Hand über Deinen Arm strecken und ebenfalls auf Deinen Hintern legen kann, ganz freundschaftlich. So bleiben wir liegen. Du schmeckst nach Erdbeereis, immer wieder Erdbeereis.

Die Sprachspielerin

Und ich habe nichts zu sagen. Es ist nur so, dass mir die Sprache immer noch am nächsten ist, nichts weiter. Die Worte umschwirren mich wie eine Wolke aus Millionen von Mücken und mein Geist muss nur nach ihnen greifen und sie sortieren und sie verwirren und mit ihnen spielen. Ich habe nichts zu sagen, nichts zu erzählen, ich will nichts erklären, nichts lehren und nichts verändern. Mein Leben ist eines von vielen, ich bin eine von vielen. Da ist eben nur diese Wolke, die es mir nahelegt, mit ihr zu spielen und zu schreiben. Diese Wolke aus Worten, die mich umgaukeln. Die mich verwirren und die mich auch trennen von der Welt. Das bleibt nicht aus. Ich träume, also bin ich nicht, ich lausche den Worten um mich, also bin ich nicht, ich spiele mit den Worten um mich, also bin ich nicht, ich bin selbst eine Wolke aus Worten.

Dauernd das Surren der Adjektive um meinen Kopf, das Dröhnen der Substantive, das Schwirren der Verben, der Zickzackkurs der Partikeln. Dauernd dieses Flüstern und Raunen, ein Knistern und Zirpen, ein Sirren und Zischen, ein Hauchen, Hecheln und Atmen, ein Schnurren, Schluchzen und Glucksen, ein Gurren und Zwitschern, ein Rauschen, Rieseln und Rattern, ein Knirschen und Quietschen, ein Scharren, Krächzen und Krähen, ein Winseln, Fauchen, Pfeifen und Röcheln, ein Ächzen, Knacken und Knattern, ein Rascheln, Glucksen und Kichern, ein tiefes Klingen und Schwingen, ein rauhes Rufen und gesättigtes Stöhnen, ein erstickter Schrei manchmal, ein Winseln, Fauchen und Jaulen, ein Jammern, Heulen und Schreien, ein Jauchzen, Jubeln und lautes Lachen. Die Worte halten nicht still, bleiben nicht ruhig, sie flattern, flirren und züngeln an mir und hüllen mich so ein in ihr aufgeregtes Umherfliegen, schreien mir in die Ohren. Sie liegen wie Dunst um mich, wie Nebel, wie Watte, die mich verpackt, wie eine Glasglocke, die mich abschottet, wie ein Meer, das mich endlos umrauscht, wie eine Mauer, wie eine Feuerwand.

Das ist der einzige Grund zu schreiben. Ich kann mich auf nichts sonst konzentrieren. Ich kann nicht sprechen und nicht zuhören, weil diese Wolke aus Worten jedes gesprochene Wort übertönt. Ich kann mit nichts sonst umgehen als mit Worten und mir nichts sonst merken. Vielleicht ist es noch nicht bedenklich, dass ich die Geburtstage meiner Eltern nicht kenne, erstaunlich ist aber, dass ich meinen eigenen einfach nicht behalten kann. Mein Glück war, dass ich schon im Kindergarten ein Mädchen kennenlernte, das genau am selben Tag wie ich geboren worden war. Immer wenn ich von anderen Kindern gefragt wurde, wann mein Geburtstag sei bzw. diese Frage im Rufen der Worte um mich her erahnte, verwies ich sie nach einem kurzen, unangenehmen Moment, in dem mir mein Unwissen schmerzlich bewusst wurde, einfach an meine Freundin, die ohne weiteres Auskunft geben konnte. Mit ihr verstand ich mich stumm. Sie blieb meine Freundin und Klassenkameradin, ohne sie wäre meine Schullaufbahn – vor allem in sozialer Hinsicht – wohl anders verlaufen.

Denn eben so wenig wie Geburtstage konnte ich mir schon immer Namen ins Gedächtnis rufen, nichts half, ich sah nur Gesichter, die mir bekannt vorkamen, aber in diesem Moment stürzten derartig viele mögliche Namen aus der mich umschwirrenden Wortwolke auf mich ein, dass ich mich unmöglich entscheiden konnte. Dann fragte ich meine Freundin, manchmal nur mit einem Blick. Sie flüsterte mir ins Ohr, nur Worte, keine ganzen Sätze, denen ich nicht hätte folgen können. Wenn sie mit mir sprach, war ich durch nichts sonst abgelenkt. Sie stellte sich neben mich und sprach für mich, ich brauchte nur zu lächeln. Ich weiß nicht, warum sie mir über all die Jahre erhalten blieb und mir nicht den Dienst quittierte und die Freundschaft kündigte. Heute denke ich, dass sie nie etwas zurückbekommen hat für ihre für mich so kostbaren Dienste. Dennoch blieb sie einfach an meiner Seite. Vielleicht war sie schlichtweg fasziniert von meiner Skurrilität, nur angezogen von dem Gedanken, wie sehr sie mir in vielerlei Hinsicht überlegen war. Vielleicht mochte sie mich gar nicht. Vielleicht hatte sie sich über die Jahre einfach an mich und an ihre Unabdingbarkeit für mein Leben gewöhnt.

Zu Schulzeiten fiel es nicht weiter auf, dass ich mich nie ohne sie in Gesellschaft begab, dass ich mit ihr tuschelte, um mich an wichtige Informationen über Menschen zu erinnern, die ich eigentlich längst hätte kennen müssen. Ich weiß nicht, wie das ihr und anderen Menschen gelingt. Sind ihnen die Worte nicht so nah wie mir, halten sie einen größeren Abstand? Oder sprechen sie nur nicht so laut mit ihnen? Raunen die Worte den anderen nur ganz leise ins Ohr und sind so eine Hilfe und Unterstützung, während sie bei mir so viel Lärm schlagen, dass sie alles andere übertönen? Ich kann mich auf kein Gespräch konzentrieren, ich kann Menschen einfach nicht dauerhaft zuhören. Und das nicht, weil ich sie für unsympathisch hielte – ich bin kein Misanthrop und Kulturpessimist, der der Meinung wäre, heutzutage seien alle Menschen dumm und redeten nur blödes Zeug.

Nein, oft möchte ich Menschen wirklich zuhören, sie sind mir angenehm, sie schmeicheln meinen Augen, ich mag ihren Geruch und bin ehrlich interessiert an ihnen. Aber ich kann nicht, ich kann einfach nicht. Wenn ich es versuche, dann beginnt sich langsam ihr Gesicht von ihrer Stimme zu trennen, auf eine grausame Weise schält sich für mich Haut, Nase, Augen und der sich bewegende Mund von der Person. Das Gesicht löst sich für mich sichtbar ab von dem, was ich für ihr Selbst halte, ihr Gesicht wird zu einer Maske, die sich komisch bewegt, die Augen leer und tot, ohne Person dahinter, ihre Stimme wird dann unverständlich für mich. Die Stimme kommt nicht mehr aus dem Menschen, dessen Totenmaske ich sich vor mir bewegen sehe, sondern wird zu einer metallenen Automatenstimme. Ich kann den Sinn ihrer Worte dann einfach nicht erfassen, die Worte um mich beginnen lauter zu flirren und schließlich zu schreien und ich muss mich erschreckt abwenden.

Ich erinnere mich noch an viele Gespräche mit meiner Freundin an meiner Seite, sie unterhält sich normal mit anderen und ab und zu flüstert sie mir Dinge ins Ohr, mit wem ‚wir‘ da sprechen, wie sie heißen, was sie machen, woher ich sie kennen müsste und ich versuche die Worte dieser Menschen zu verstehen, die gegen die mich umgebende Wortwolke anschreien, ohne es zu wissen und zu bemerken. Ich versuche so sehr zuzuhören, aber dann sehe ich wieder die Masken, in die sich ihre Gesichter verwandeln und ich muss mich abwenden, ich muss wegsehen und ich muss weghören, um diese Trennung von Mensch und Stimme, von Person und Gesicht ertragen zu können. Damit sind Gespräche zumeist beendet, die Wortwolke hat mich wieder.

Weghören ist dafür etwas, was ich ausgesprochen gut beherrsche. Stimmen anderer kann ich immer einfach ausknipsen, ich nehme sie dann gar nicht mehr wahr, sie sind weit fort, ich bette mich in die Worte um mich wie in Watte, um nichts mehr zu hören als ihr Surren und Schwirren, um nur noch in Gedanken nach schöneren Worten zu suchen und schöne Sätze zu bilden. Ich tauche ein in meine Wortwolke und tauche unter darin, versinke in den Worten wie in einem Meer aus Watte, das mich abschirmt gegen die Welt. Meine Eltern verzweifelten daran, dass ich so gekonnt nicht zuhören konnte und wollte, meine Lehrer verzweifelten daran, dass ich ihre Stimmen ausknipste und den Unterricht zwar nicht störte, aber auch vollkommen teilnahmslos an mir vorübergehen ließ, nur mit mir selbst beschäftigt oder lesend.

Lesen hatte ich mir schon mit vier Jahren selbst beigebracht und Lesen war meine Rettung. Lesen ermöglichte es mir nicht nur, trotz allem einigermaßen gute Leistungen in der Schule zu erreichen, obwohl ich nicht zuhören konnte. Ich las die Schulbücher und die Hefteinträge meiner Freundin und die Tafelanschrift und sonst alles, was mir in die Hände fiel. Mündlich hatte ich immer schlechte Noten, weil ich die Fragen nicht verstand und weil ich mich im Lärm meiner eigenen Antworten verhedderte. Aber schreiben konnte ich und schriftlich gehörte ich so in den meisten Fächern zu den besten. Das bewahrte mich auch vor der Sonderschule oder Fördermaßnahmen, die bei mir keinerlei Sinn gehabt hätten. Ich galt einfach als hochbegabt und komisch und irgendwann wollte mir niemand mehr helfen.

Lesen und Schreiben waren aber auch sonst die Rettung für mich. Wenn ich die auf Papier gestreuten Buchstaben mit den Augen verfolge oder wenn sich nur die Spitze meines Stiftes dem Papier nähert, dann ist es, als würde die Wolke an meiner Seite niedersinken, als würden die Worte neben mir zu Boden fallen wie dunkle Schneeflocken. Schwarz auf Weiß verstummt jedes sonstige Geraune und Gekicher, alles Flüstern und Schreien der Worte um mich. Es genügt die Annäherung meines Stiftes an das Papier und die Konzentration vor dem Ansetzen, es genügt das Aufklappen eines Buches und die Annäherung meiner Pupillen an die Schriftzeichen und alles wird still. Ich konnte ganz meisterlich lesen und schreiben und ich tat es wann immer ich konnte. Die Stille ist herrlich. Ich schwelge im Schweigen der Worte um mich, bei gleichzeitiger Konzentration auf andere, die ich lese, die ich schreibe, die ich dadurch aber kontrolliere. Die nur aufstehen und sprechen, wenn ich sie dazu auffordere, die sich nur zu Wort melden, wenn ich es will, die sich meinem Willen unterwerfen und nicht vor sich hinschnattern und rattern, ohne dass ich es beeinflussen kann. Die sich meinem Willen und meiner Vorstellung von einem Satz beugen. Wie gesagt, so bald ich dazu fähig war, las und schrieb ich so oft ich konnte. Dann war und bin ich glücklich. Einfach nur zufrieden und ich selbst. Bei mir und nicht getrennt. Dann bin ich nicht betäubt. Pures Bei-Sich-Sein, pures Glück.

Meine Pubertät war eine etwas unglücklichere Phase. Ich verliebte mich und wusste noch nicht um die Probleme, zu denen dies in meinem speziellen Fall führte. Ich verliebte mich in Jungen oder Mädchen, die ich sah, wenn ich vom Schreiben aufblickte. Wenn dann mein Blick für einen kurzen Moment auf einen mir schön, makellos erscheinenden Menschen fiel, egal ob männlich oder weiblich, dann verliebte ich mich sofort oder tat das, was ich dafür hielt. Ich verliebte mich in jeden schönen Menschen, den ich traf, egal welchen Alters, und ich versuchte daraufhin jedesmal sofort, mich ihnen schreibend anzunähern. Nach jenem kurzen Aufblicken und dem Moment des Verliebens während des Schreibens begann etwas, was man nur als ‚Andichten‘ bezeichnen kann. Ich senkte dann den Blick wieder, bevor das Surren der Wortwolke noch einsetzen und meine Ohren betäuben konnte und begann, die erblickte Person mit Metaphern zu belegen, so viele mir nur einfielen, sie zu beschreiben wie ich sie in jenem kurzen Moment wahrgenommen hatte, wie ich sie eingesogen hatte in jenem kurzen Augenblick des Schweigens der Worte. Um die Wolke, die mich von der Welt und damit auch von dem von mir geliebten Menschen trennen konnte, am neuerlichen Aufsteigen zu hindern, schrieb ich wie besessen los, schrieb ich alles nieder, was mir zum Geliebten einfiel. Ich schwelgte im Schreiben, im Andichten des Geliebten und schwelgte zugleich im Schweigen jenes Wortmeeres, dessen Rauschen sonst die Liebe vergessen gemacht hätte.

Dieses Vorgehen hatte niemals den gewünschten Erfolg. In sehr seltenen Fällen vergaß ich, blind und stumm vor Liebe, bei einem erneuten Auf- und Erblicken der geliebten Person das Schreiben, ich starrte sie einfach nur an, während sich die Worte wie Wände langsam wieder um mich erhoben. So vertieft war ich dann in den Anblick, dass ich die Worte erst bemerkte, wenn sie wieder über meinem Kopf zusammenschlugen und jede Interaktion, geschweige denn Kommunikation, unmöglich machten. Wenn mich die Geliebte jetzt ansprach, dann konnte ich sie nur wie ein Wahnsinniger anblicken, ich schwieg, ich konnte nichts sagen, nicht zuhören, die Worte umtosten mich lauter denn je, brandeten auf im Rhythmus meines irrwitzigen Herzschlags und ich konnte mich nur, stumm zur Seite blickend und mich abwendend, in die geschriebene Sprache retten. Hatte mich das Geliebte aber einmal angesprochen, so war dessen Entzauberung vollzogen und alle Liebe dahin, ich hatte seine Maske gesehen und die grausame Leere dahinter und konnte nichts mehr Schönes an diesem Menschen finden. Eine peinliche, aber immer noch relativ schmerzlose Art des Liebens in jener Zeit.

Schlimmer war es, wenn ich den Geliebten andichtete und das Schicksal – oder ein gemeinsamer Klassenkamerad – die Ode an die Liebe jener Person in die Hände spielte. Die Begeisterung über mein Geschriebenes blieb meist aus, oft reagierten sie mit Wut oder Verachtung, jedenfalls nicht positiv auf die Verehrung durch mich sozialen Krüppel, der schwülstige Verse schrieb, aber zu einem Lächeln nicht fähig war. Eine junge Lehrerin, die ich im Unterricht andichtete und die mir dabei über die Schulter in mein Heft blickte, gab mir einmal eine Ohrfeige, rot vor Wut, vor der ganzen Klasse. Ich muss zugeben, dass meine Metaphern nicht immer dezent waren und dass ich mit ihnen gerne auch sinnliche Freuden jeder Art ausmalte. Dennoch überraschte mich die Vehemenz, mit der sie mir meinen Schreibblock aus der Hand riss, Seiten zerfetzte und die Überreste meines Schreibpapiers zu Boden warf, um auch noch darauf herumzutrampeln. Sie war noch schöner in jenem Augenblick. Und die Wortwolke schwieg einen Moment und ließ mich sie in völliger Verzückung ansehen. Sie war so empört über meinen Blick, dass sie mir noch eine Ohrfeige gab. Die schlimmste Art des Liebens zu jener Zeit. Noch lange war ich in diese Lehrerin verliebt, aber seitdem erwähnte ich dies mit keinem Wort mehr, ich schrieb nichts mehr über sie, sie blieb von mir unbeschrieben.

Ich dachte viel an Berührungen zu jener Zeit, an Haut und an Küsse, ich träumte davon, ganz im Gefühl aufzugehen, eine andere Person still zu streicheln. Nicht reden zu müssen, nichts hören zu müssen, nur zu tasten und zu spüren und zu küssen. Ich hatte die leise Ahnung, dass die Worte dann schweigen müssten, nur eine Weile lang.

In den allermeisten Fällen hatte meine Methode mich zu verlieben jedenfalls ausschließlich unerfreuliche Folgen. Selbst wenn meine unziemlichen Metaphern nämlich unentdeckt blieben, dann blieb andererseits auch meine Liebe unentdeckt und damit völlig folgenlos. Grund für unmäßiges Leiden. Hierin unterschied ich mich nicht einmal sehr von meinen Altersgenossen. Nur dass ich es sofort niederschrieb. Auf das Liebes-Sonett folgte ein japanisches Todesgedicht, auf ein verliebtes Madrigal eine Elegie des Leidens, auf die Hymne auf den Geliebten ein Klagelied, auf die Ode an die Freude der Text zu einem Requiem, meinem eigenen. Ich genoss den Schmerz aber viel zu sehr, um zu handeln und den Worten Taten folgen zu lassen, auch darin meinen Altersgenossen ähnlich.

All dies änderte sich erst, als ich zu studieren begann und ihn kennenlernte. Er gefiel mir auf den ersten Blick, als ich von meiner Vorlesungsmitschrift aufsah. Natürlich studierte ich lieber zu Hause die angegebenen Bücher, als in Vorlesungen zu gehen, aber diese Einführungsvorlesung im ersten Semester Germanistik war Pflicht. Was hätte ich auch sonst studieren sollen, die ich Literatur aller Epochen und Gattungen verschlang wie andere ihr Abendessen nach einem anstrengenden und entbehrungsreichen Tag? Für ihn war Germanistik nur ein Nebenfach, das er bald wieder aufgeben sollte, um sich ganz und gar der Hauptsache zu widmen: der Musik. Aber jetzt saß er vor mir und sah sich um, er wollte mich etwas fragen. Aber er verstummte sogleich wieder, als er meinen begeisterten und dennoch ängstlichen Blick auf sich spürte. Ich hatte solche Furcht, ihn sofort wieder zu verlieren!

Er war so schön! Er hatte blonde, kurze Locken und tiefgrüne, strahlende Augen, helle Haut und die allerfeinsten Gesichtszüge. Beim Sich-Umwenden hatte er eine Hand auf die Rückenlehne gelegt und ich sah seine unglaublich langen und feingliedrigen Finger, ich sah den zarten, blonden Flaum auf seinen schmalen Pianistenhänden, seine ganz kurzen Nägel, die minimalen Verdickungen an den Gelenken seiner Fingerglieder, die Sehnen die auf seinem Handrücken hervortraten und mit den bläulich durch die Haut scheinenden Adern spielten, die Eleganz seiner Handhaltung und ich war rettungslos verloren.

Und als erster muss er meine Hilflosigkeit und Furcht gespürt haben, denn er verstummte sofort wieder und auch er sah mich nur an, sprachlos. Er drehte sich wieder nach vorn und wie verzaubert blickte ich jetzt auf seinen Nacken, die seitlichen Muskelfasern, die sich beim Vorbeugen des Kopfes anspannten, auch sein Nacken unter den Locken blond beflaumt und diese unheimlich zarte, weibliche Haut, die ich nur noch berühren wollte. Er schrieb etwas. Riss dann ein Eck Papier aus seinem Schreibblock, drehte sich zu mir – langsam – und gab mir das Zettelchen, auf dem nur ein Wort und ein Satzzeichen zu lesen waren: „Nachher?“ Und ich, wie erlöst, brauchte nur noch zu nicken, nicht zu sprechen, nichts zu fragen, nichts zu antworten.

Mit dem Rest der Vorlesung folgte die längste Stunde meines Lebens, in der ich ihm nur auf den Nacken sah und auf seine Hände, wie sie schrieben. Niemals hatte ich jemanden mit so schönen Bewegungen schreiben sehen, seine Kinderschrift auf das Papier setzen sehen, niemals so schöne Finger so elegant einen Stift führen sehen, niemals so sehr nur dem Kratzen einer fremden Feder auf dem Papier gelauscht. Und die mich umschwirrenden Worte schwiegen. So sehr war ich in seiner Bewegung, in seinem Schreiben, dass sie nicht wagten, meine Beobachtung zu unterbrechen. Das Schweigen der Worte kam durch sein Schreiben, durch ihn, zu mir hinüber.

Nach der Vorlesung packten wir synchron mit einer unheimlichen und eifrigen Geschwindigkeit zusammen, er nahm mich mit größter Selbstverständlichkeit an der Hand und führte mich, die ich ihm um ein weniges nachfolgte, wortlos hinaus. Neben mir, zwei Köpfe größer als ich, ein großer Mann und doch kindlich mit der Länge seiner Glieder, mit der Schlaksigkeit seiner Bewegungen, mit seiner nicht ganz schlanken Statur und dem jungenhaften Blond, dem Sprühen seiner grünen Augen. Schräg von unten blickte ich zu ihm auf und ließ mich mitnehmen, sah nicht auf den Boden, nicht wohin wir gingen, stolperte ein wenig, hingerissen von ihm und von seinem immer noch andauernden Schweigen und vom Schweigen der Worte um mich. Er führte mich in einen anderen Trakt der Universität, in ein winziges, fensterloses Zimmerchen, vielleicht zwei Quadratmeter groß, in dem ein Klavier stand, zwei Stühle, sonst nichts. Er schloss die Tür hinter uns, immer noch hatte keiner von uns beiden ein Wort gesprochen, er nahm meine Hände in seine, ich fühlte sie knistern bei dieser ersten Berührung, für die Ewigkeit einer Sekunde sah er mir in die Augen, dann ließ er mich wieder los, wies mich mit einer Kinnbewegung zu einem der Stühle, auf dem ich mich niederließ und setzte sich selbst ans Klavier.

Er setzte sich ans Klavier und improvisierte und ich hörte ihm zu. Nichts sonst. Es gab nichts einfacheres, nichts klareres, nichts schöneres auf der Welt. Er begann zu spielen und ich verstand ihn sofort, ich verstand ihn um so vieles besser, als wenn er gesprochen hätte zu mir, selbst als wenn er mir geschrieben hätte, ich verstand alles, jedes Gefühl, jede Stimmung, jede Schwingung, jede Nuance seines Wesens, die Geschichte seines Lebens, alles lag direkt und klar vor mir, alles lag in seinem Spiel. Die Wortwolke sortierte sich unter seiner Musik, sie schwebte ganz ruhig und gemessen um mich her, langsam, leise, harmonisch, im Takt der Musik und ab und zu trat ein Wort ganz unaufdringlich hervor und sagte mir, was er mir gerade sagen wollte. Die Worte flogen in unheimlicher, leichter Harmonie um mich, so wie seine graziösen Hände über die Tastatur flogen. Ich musste nur zuhören und verstand und ich wusste, dass er wusste und empfand, wie sehr ich verstand. Wir hatten jedes Zeitgefühl verloren, nichts existierte mehr außerhalb dieses kleinen Raumes, nur er und ich und das Klavierspiel. Ich war ganz vertieft in ihn und die Worte, die ihn beschrieben, die er mir sagte durch die Musik, mit der er mir sich und die Welt erklärte, als er aufhörte zu spielen.

Wir liebten uns noch dort, auf dem Boden dieses kleinen, fensterlosen Musikzimmers, zu Füßen des Klaviers, das mir seine Geschichte erzählt hatte. Alles war so einfach und klar zwischen uns, aus der Einfachheit entstand Harmonie und aus der Harmonie Schönheit.

Ich kenne weder seinen Namen noch seinen Geburtstag. Er ist bald darauf bei mir eingezogen, und zwischen uns blieb alles so selbstverständlich. Will ich ihm etwas sagen, dann schreibe ich ihm, er liest und versteht. Die Alltagsfragen beantwortet er mir mit kleinen Zetteln: „Was willst Du heute essen?“, „Erdbeereis“ etwa oder „Ja, ich liebe Dich“. Will er mir mehr erzählen, setzt er sich ans Klavier und ich höre ihm zu. Es funktioniert. Wir verstehen uns. Wir akzeptieren uns gegenseitig in unserer Sprachlosigkeit und Fülle an andersartiger Sprache und Ausdrucksform. Auch er spricht nicht gerne, auch er kann sich anders besser ausdrücken: in der Musik, so wie ich im Schreiben. Meine Wortwolke beruhigt sich, wenn er spielt und sie schweigt, wenn er schweigt. Sie ist ganz stumm, wenn ich ihm stumm gegenüber stehe.

Und wenn ich ihn umarme und seine zarte, helle Haut mit blondem Flaum berühre, an meiner fühle, wenn ich seine schönen, schlanken Pianistenhände meinen Körper streicheln spüre, wenn sich unsere Lippen treffen und ein wenig öffnen, dann habe ich manchmal das Gefühl, als würde sich auch die Wortwolke ganz leise ein wenig öffnen und ihn einlassen zu mir, sich nicht mehr zwischen uns stellen, sondern die Arme um ihn breiten und um ihn legen, genauso wie ich es tue. Das Schreien der Worte wird zum Rauschen eines fernen Wasserfalls, das uns beide einschließt und vereint. Ich bin glücklich. Mehr kann ich dazu nicht sagen. Ich bin absolut glücklich. Ich habe nichts zu sagen, nichts zu erklären, ich will nichts verändern oder verbessern. Alles ist perfekt.

Stille

Manchmal trete ich auf meinen Balkon und erschrecke fast, wie still es im Hinterhof ist. Besonders wenn es ausnahmsweise mal nicht regnet und keine Tropfen auf Dächer prasseln. Einfach nur Stille. Niemand hört Musik, kein Hund bellt, keiner streitet sich mit irgendwem, keine Kinder schreien, niemand muss draußen laut telefonieren oder sein Motorrad starten, nichts, nur Ruhe. Mitten im ‚In-Viertel‘. Nur die Nachbarin auf dem Balkon drei Häuser weiter sitzt immer noch im Bikini draußen – was ich bei 17 Grad doch sehr mutig finde – und wechselt alle zwei Minuten die Position, um gleichmäßig braun zu werden. Die weiße Katze schleicht völlig geräuschlos durch den Hof nebenan. Nicht einmal Wind, der die Blätter bewegt. Und dann kommt eine verspätete Hummel und setzt sich auf einen verspätet blühenden Zweig meines Lavendelbusches. Und es ist wieder still. Und auch die Sonne macht kein Geräusch.

Monolog

Dies ist der allererste Text, den ich jemals geschrieben habe. Also wenn man von Schulaufsätzen, Tagebüchern, seitenlangen Briefen und einem Kinderbuch über ‚Purzel, der kleine Roboter‘ einmal absieht. Ich wollte ihn hier einfach in die Sammlung aufnehmen, weil er dazugehört, den Anfang markiert und damit bedeutsam war. Bitte seid nett zu dem Text, er ist sehr jung und grün hinter den Ohren. Ich war gerade 16 geworden, hatte viel von Wolfgang Borchert gelesen (sehr viel geht bei Borchert ja gar nicht, aber man merkt es dem Stil deutlich an), einen wirklich großartigen Religionslehrer (Herr Hilz-Merthan) und in Jugoslawien war Krieg. Ein kleines bisschen passt der Text deshalb auch zum heutigen Tag.

Monolog (mit einem Schwein)

Das Schwein saß in einer Ecke.
Ich saß ihm gegenüber, dem Schwein, und beobachtete es, wie es da in seiner Ecke saß, eine ganze Weile schon beobachtete ich es.
Da saß es in seiner Ecke und ich redete mit ihm. Ich redete mit dem Schwein, erzählte ihm, wie entsetzlich dreckig es mir ginge, wie ich litt, erzählte ihm mein Leben, mein ganzes langes Leben.
Aber es hörte mir nicht zu, das Schwein, wollte mir einfach nicht zuhören.
Fast wie Gott, dachte ich, fast wie Gott, hört einfach nicht hin, wenn man mit ihm redet, hört nicht hin, wenn man ihn braucht.
Und da sah ich, daß das Schwein gar keine Ohren mehr hatte, saß da, in seiner Ecke, und hatte keine Ohren mehr.
Und es sagte auch nichts, das Schwein, stumm saß es in seiner Ecke, quiekte nicht, nickte nicht, gab mir keine Antwort.
Fast wie Gott, dachte ich, fast wie Gott, gibt nie Antwort, wenn es nötig wäre, weiß keine Antwort.
Das Schwein saß in seiner Ecke und staunend erkannte ich, daß es keinen Mund mehr hatte, war weg, der Mund.
Ich sah dem Schwein in die Augen, mitten in die Augen. „Hallo!“, rief ich, „Hallo!“ sagte ich mit meinen Augen, „Siehst du mich, Schwein, in deiner Ecke?“, fragte ich.
Es blinzelte nicht, das Schwein.
Es saß in seiner Ecke und schaute durch mich hindurch, einfach so, als wäre ich nicht da, sah es hindurch durch mich.
Fast wie Gott, dachte ich, fast wie Gott, sieht einfach nicht hin, wenn Menschen in Not sind,
sieht einfach durch sie durch, ist ja auch viel einfacher.
Das Schwein hatte jetzt keine Augen mehr, es saß da, in seiner Ecke, ohne Ohren, ohne Mund, ohne Augen.
„Schwein, riechst du meine Leiden vielleicht, riechst du sie etwa?“
Aber das Schwein, in seiner Ecke, hatte schon keine Nase mehr, war weg, die Nase.
Ich sah es an, das Schwein, beobachtete das Schwein, wie es in seiner Ecke saß, schon eine ganze Weile lang.
Ich blickte jetzt auf seine Beine, auf die Beine des Schweines in seiner Ecke.
„Willst du damit etwa Menschen retten?“, lachte ich das Schwein aus, „Willst du damit die Juden vor einem verrückten Hitler beschützen, die Japaner vor der Atombombe, die Bosnier vor den Panzern?“
Fast wie Gott, dachte ich, fast wie Gott, er rettet auch niemanden, denn er will niemanden retten, er will ja gar nicht.
Das Schwein saß in seiner Ecke und hatte keine Beine mehr, hatte keine Ohren, keinen Mund, keine Augen, keine Nase und keine Beine mehr, dort saß es in seiner Ecke, aber es hatte einen fetten Wanst, einen ganz fetten Wanst.
„Willst du nicht die Menschen damit füttern, die Menschen, die zu hunderten, tausenden sterben? Die jeden Tag sterben, weil sie Hunger haben? Willst du sie nicht füttern mit Deinem Speck, sie am Leben erhalten?“
Aber das Schwein schrumpfte schon, in seiner Ecke, der Körper schrumpfte zusammen, wurde immer dünner.
„Aber willst du nicht wenigstens die Kinder retten, die Kinder, die kleinen unschuldigen Kinder, die jeden Tag, jede Stunde, jede Minute sterben, willst du nicht wenigstens sie retten?“, schrie ich es an, das Schwein in seiner Ecke.
Fast wie Gott, schrie es in mir, fast wie Gott.
Aber es war schon weg, das Schwein in seiner Ecke, war schon ganz weg.
Keine Ohren, kein Mund, keine Augen, keine Nase, keine Beine, kein Wanst mehr, kein Schwein mehr.
Aber es fehlte nicht einmal mehr, das Schwein, fehlte nicht in seiner Ecke.
Die Ecke war da, war da wie immer, ich war da, das Schwein war weg.
Aber es fehlte nicht einmal.
 


Oktober 1995

Mein Abgrund

Für M.

Mein Herz blutet Dir nach, wenn Du gehst.

Mir stockt der Atem, wenn ich Deinen Namen nennen soll.
Mir schwindet aller Mut, wenn ich über Dich sprechen soll.
Ich werde ratlos, wenn ich sagen soll,
wer, wie Du bist.

Du bist der Atem meines Herzens.
Mein Herz blutet Dir nach, wenn Du gehst.

Und wenn Du zu mir kommst,
falle ich.
In Dich.

September 2005 und September 2007

Das Klavier

Das Klavier

Und das Klavier steht schwarz und stumm in einer Ecke meiner Wohnung. Dennoch ist es nicht nur ein Möbelstück, es ist viel mehr. Das Klavier lebt bei mir. Es ist ein Hausgenosse und Mitbewohner, könnte man sagen, es gehört zur Familie. Denn es ist ein beseelter, sehr lebendiger Gegenstand. Das sage nicht nur ich, das sagt auch Nietzsche, von dem es eine schöne Anekdote gibt, die auch Thomas Mann in seinem ‚Doktor Faustus‘ verarbeitet hat.

Nietzsches Jugendfreund Paul Deussen berichtet nämlich, dass Nietzsche 1865 in Köln ‚versehentlich‘ von einem Kutscher statt in ein Restaurant in ein Bordell gebracht wurde (dafür sind heute dann die Taxifahrer zuständig). „Ich sah mich“, soll Nietzsche am folgenden Tag erzählt haben, „plötzlich umgeben von einem halben Dutzend Erscheinungen in Flitter und Gaze, welche mich erwartungsvoll ansahen. Sprachlos stand ich eine Weile. Dann ging ich instinktmäßig auf ein Klavier als auf das einzige seelenhafte Wesen in der Gesellschaft los und schlug einige Akkorde an. Sie lösten meine Erstarrung und ich gewann das Freie.“

Bei Thomas Mann und aus der Perspektive Adrian Leverkühns klingt das dann so:

„Ich schelle, die Thür geht von selber auf, und auf dem Flur kommt mir eine geputzte Madam entgegen, mit rosinfarbenen Backen, einen Rosenkranz wachsfarbener Perlen auf ihrem Speck, und begrüßt mich fast züchtiger berden, hocherfreut flötend und scharmutzierend, wie einen Langerwarteten, komplimentiert mich danach durch Portièren in ein schimmernd Gemach mit eingefaßter Bespannung, einem Kristall-Lüster, Wandleuchtern vor Spiegeln, und seidnen Gautschen, darauf sitzen dir Nymphen und Töchter der Wüste, sechs oder sieben, wie soll ich sagen, Morphos, Glasflügler, Esmeralden, wenig gekleidet, durchsichtig gekleidet, in Tüll, Gaze und Glitzerwerk, das Haar lang offen, kurzlockig das Haar, gepuderte Halbkugeln, Arme mit Spangen, und sehen Dich mit erwartungsvollen, vom Lüster gleißenden Augen an. Mich sehen sie an, nicht dich. Hat mich der Kerl, der Gose-Schleppfuß in eine Schlupfbude geführt! Ich stand und verbarg meine Affekten, sehe mir gegenüber ein offen Klavier, einen Freund, geh über den Teppich drauf los und schlage im Stehen zwei, drei Akkorde an, weiß noch, was es war…“ (Thomas Mann: Doktor Faustus, Frankfurt a.M.: Fischer 1997, S.191).

Dass Nietzsche selbst bestreitet, mit den Flitter-Mädchen auch nur irgendetwas zu tun gehabt zu haben und so die beliebte These, dass sich Nietzsche hier die Syphilis und damit den Wahnsinn ins Haus geholt habe, abstreitet, während Adrian sich in eine der Esmeralden verliebt und sich durchaus ansteckt, soll hier nicht weiter interessieren. Und auch nicht, dass damals Bordelle offenbar wunderhübsche Aufenthaltsräume mit Klavier und zuvorkommende ‚Wirtinnen‘ hatten. Auch über die hervorragende Schreibweise Thomas Manns, wie spaßig er bei allem Ernst ist und darüber, dass er noch sehr viel längere Sätze bauen konnte als ich, soll hier kein Wort verloren werden. Entscheidend ist vielmehr, dass Herrn Nietzsche das Klavier im Raum belebter und menschlicher erschien als die Gaze-Damen und Herrn Leverkühn sogar als einziger Freund in der Not.

Mein Verhältnis zu dem Klavier ist durchaus ähnlich freundlich und leidenschaftlich. Jemand, der sich damit auskennt, setzte sich vor mehreren Jahren mal an mein Klavier und meinte – als er sich vom Spiel wieder erhoben hatte – dass man dem Klavier, den Tasten, dem Anschlag anmerke, dass ich es mit Leidenschaft behandle. Man merke, dass ich meine Gefühle daran ausließe und das meinte er weniger esoterisch als vielmehr mechanisch und weniger rügend als anerkennend. Mag durchaus sein, dass ich manchmal auch roh mit ihm umgehe, meinem schwarzen Hausgenossen, und ihn mehr schlage als zum Klingen bringe. Grundsätzlich bin ich ihm aber doch eher liebevoll verbunden, schon seit dem ersten Blick. Verliebt habe ich mich da zu aller erst in seine Pedale.

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Die Pedale meines Klaviers sind eher klein, golden, hübsch nach außen geschwungen und ihre Spitzen von Socken glanzpoliert, sie verschwinden in grünem und rotem Filz, sie wirken antik und putzig an dem großen, dunklen Kasten. Zwar benutze ich sie auch gerne und ausgiebig – besonders das rechte – , was mich aber mehr entzückt, ist schlichtweg ihr Anblick. Ansonsten ist es ein ganz gewöhnliches Klavier, der Klang eher weich, nicht japanisch und ich glaube, es fühlt sich wohl in seiner Ecke. Und es bleibt nicht immer unbeschäftigt. Ich habe zwar zu spät angefangen zu spielen und war auch nie ehrgeizig genug, um wirklich gut zu werden, dennoch habe ich nie ganz damit aufgehört und mir ein kleines Repertoire angeeignet, das je nach Stimmung erprobt wird. Tatsächlich gibt es Tage, da habe ich nur nichts zu tun oder will nichts tun oder will irgendetwas anderes auf keinen Fall jetzt tun und dann greife ich einfach ins Notenregal und ziehe heraus, was ich finde.

Meist wähle ich das Stück aber nach dem Gefühl, das mich gerade beherrscht. Wenn ich glücklich und zufrieden bin, dann natürlich Mozart oder aber Yann Tiersen, wenn ich untröstlich bin dann Chopin, wenn ich ratlos bin Satie, wenn ich nachdenklich bin Debussy oder Ravel, wenn ich spielerisch bin Schostakowitsch, wenn ich romantisch bin Schumann oder Michael Nyman, wenn ich an Venedig denkeP7020008_blog.jpg Mendelssohn, bei Wut oder Leidenschaft (was ja eng verwandt ist) Piazzolla. So oder so ähnlich. Und zum Nachdenken Bach, immer Bach in den Schreib- und Lernpausen, wenn ich nicht weiter weiß, wenn ich mich nicht konzentrieren kann, wenn ich einen Einfall und Anstoß brauche. Denn nur bei Bach passiert das so perfekt und einfach, dass sich meine Gedanken vom Spiel lösen, dass meine Finger die Noten spielen, die Tasten greifen, ohne dass ich nachdenken muss, dass das alles einfach von selbst passiert und meine Gedanken schweifen können. Ich spiele dann wie automatisiert, den Blick fest auf die Noten gerichtet, aber mein Denken ganz wo anders. Dabei kommen mir oft die besten Ideen. Mein Kopf wird klar, denn meine Gefühle stecken im Klavier, im Spiel.

Was meine Nachbarn zu all dem sagen, weiß ich nicht und will ich wohl auch nicht so genau wissen.

Zu Hause

Und der unergründlichste Geruch ist der nach ‚zu Hause‘. Er steigt einem in die Nase, wenn man nach dem beinahe monatelangen Sommerurlaub das Treppenhaus des Mietshauses betritt und die Koffer nach oben trägt, fast ununterscheidbar vermischt mit dem vertrauten Geräusch des Treppenknarzens, denn jede Stufe hat ihren wohlbekannten, aber in Vergessenheit geratenen Ton. Bei jedem Schritt die Treppe hinan wird der Geruch stärker. Und er schlägt einem beim Öffnen der Wohnungstür entgegen, ein etwas abgestandener Geruch nach zu Hause, der einen empfängt, auf den man gewartet und gehofft hat und den man sich doch gar nicht mehr vorstellen konnte. Man stellt die Koffer in die nächste Ecke und schnüffelt ein wenig, macht vielleicht eine Bemerkung zu denen, die mit einem in dieses ‚zu Hause‘ zurückgekehrt sind, jedenfalls wird man sich bewusst, dass dieser Geruch überhaupt nur in jenem Moment wahrnehmbar ist und morgen wieder vergessen sein wird, nicht verschwunden, aber verschleiert.

Und der stärkste Geruch ist natürlich der der Kindheit, der in den man nach den Schulferien zurückkehrt, in die Wohnung welche man mit den Eltern bewohnt. Ein Stück dieses Geruchs trägt man wohl mit sich fort, wenn man auszieht, ein Stück nimmt man mit und es taucht wieder auf im neuen zu Hause, aber so intensiv wie in der Kindheit wird er niemals wieder sein. In der Kindheit, mit acht oder zehn, da setzt man sich benommen an den Küchentisch, von der langen Fahrt und weil man keine Koffer mehr tragen möchte, man atmet tief ein und versucht ein bisschen zu genießen, dass man wieder zu Hause ist, auch wenn es schwer ist und man sich ein klein wenig zusammennehmen muss, um nicht doch in Tränen auszubrechen. Man ist erschöpft von der langen Fahrt und davon, dass man sich ein wenig übernommen hat mit den Koffern, weil man dem Vater zeigen wollte, wie stark und tapfer man ist.

Man denkt an das Ferienhaus im Süden zurück und an die monatelange Hitze – zumindest erscheint es einem im Nachhinein als eine unwahrscheinliche Hitze, im Nachhinein als monatelang – an den Frieden, das Nichtstun und das lange Schlafen unter dem dünnen weißen Laken, unter dem Dach, mit den Schwalben, die einen des Morgens weckten und die man vom Fenster aus beobachtete, an das Rauschen des Meeres und die Ruhe, in der so viele Gedanken zu einem kamen. An das Liegen, Dösen und ununterbrochene Lesen vor allem, im Bett, im Sand, in der Wiese, auf einer Klippe oder auf dem Fenstersims der Burgruine. Man denkt an den Geruch des Südens, an wildwachsenden Lavendel, Rosmarin und Thymian, an den Duft des frischen Baguettes am Morgen aber auch den des Hundekots in den engen, verwinkelten Gassen des Dorfes. Und an den Duft der geteerten Straßen nach einem kurzen, warmen Gewitter. Man denkt an das Fell der Katze, in die man sich in diesem Sommer verliebt hat, an ihr Maunzen und dass man sie trotzdem nicht mitnehmen durfte. Man denkt an frische Trauben aus dem Weinberg, gestohlen und an selbst geknackte Mandeln, mit einem Stein aufgeschlagen und an die vom Baum gepflückten Feigen, die vom Strauch gezupften Brombeeren. Und man denkt an den Abschied, vom Haus, vom Dorf, von den Nachbarn, vom Sommer und den Ferien, so viele Abschiede. Man denkt an die lange Fahrt, zwölf Stunden beinahe, und die ersten Regengüsse dieses Herbstes, die einen im Stau der deutschen Autobahn begrüßten, ganz plötzlich ist es kalt und grau und Herbst. Und man beginnt sich Gedanken um die Schule zu machen, die ja bald wieder anfangen muss und die so weit zurücklag, jetzt ist wieder alles ernst und nicht mehr pflichtlos süß. Eine Weile bleibt man also benommen am Küchentisch sitzen und atmet den Geruch, der einen so glücklich-unglücklich macht, bis man sich entschließt, dass es eben weitergehen müsse.

Dann geht man kurz in sein Zimmer, alles ist wie immer, unverändert, und genau das bedrückt einen. Die Eltern packen schon aus, die Lebensmittel zuerst und man selbst soll auch bald seinen Koffer auspacken, aber genau das mag man nicht. Das wäre endgültig, der Vollzug, die Bestätigung der Rückkehr, so als wäre man nie fort gewesen, alle äußeren Anzeichen der Reise damit beseitigt. Man drückt sich also noch ein paar Stunden darum. Und dann, man ahnte es schon, kommt die nächste, immer-gleiche Hürde des Ankommens zu Hause: man solle die Post und den Briefkastenschlüssel von der Hausmeisterin holen und ihr dafür das kleine, im fremden, südlichen Land besorgte Geschenk zukommen lassen. Da ist man dann wiederum glücklich-unglücklich, denn an der Heimkehr ist nichts so spannend wie das Öffnen der Stapel an Post, die in der Ferienzeit gekommen sein müssen. Gleichzeitig beginnt man sich aber auch zu fürchten, vor der Hausmeisterin, vor dem Weg, vor dem Hund der Hausmeisterin, vor dem ganz-alleine Erfüllen dieser Aufgabe und die Eltern benötigen eine gute Portion ihrer Überredungskunst, bis man sich aufmacht.

Die Treppe hinab, durch den Innenhof, in dem immer noch dieser herbstliche Nieselregen fällt, und schon die leise Furcht, das Herz beginnt zu klopfen, wenn man das unbekannte, nur zu dieser einen Gelegenheit im Jahr betretene Treppenhaus des Hinterhauses erklimmt. Die Hausmeisterin ist nicht böse, man müsste sich nicht vor ihr ängstigen, aber man sieht sie nur selten; man spielt mit ihrem Enkel – er geht in die selbe Klasse und wohnt bei der Großmutter, von seinen Eltern weiß man nichts – im Hof und den schickt man auch den Ball holen, wenn er über die Mauer geworfen wird; und manchmal hört man die Hausmeisterin schreien, hört sie schreien und jammern, am Abend oder mitten in der Nacht, ihr Mann schreit noch lauter, die Wand zwischen Vorder- und Rückgebäude dämpft den Schall nur wenig, man liegt im Kinderzimmer und weiß nicht, was man machen, was man sich auch nur dazu denken soll; manchmal sieht man sie mit blauem Auge, mit geschwollener Unterlippe, aber man fragt sie nicht, man hat seltsamerweise kein Mitleid mit ihr, stattdessen fürchtet man sich, fürchtet sich auch vor ihr und dem, was da wohl mit ihr geschieht.

Aber man muss einmal im Jahr die Post holen und sucht im Dunkeln den Lichtschalter im fremden Treppenhaus des Hinterhauses, das so ganz anders ist, von so anderen Leuten bewohnt wird, und versucht beherzt hinaufzugehen und sich den starken Herzschlag nicht anmerken zu lassen und die Furcht. Und man drückt auf die Klingel und weiß schon den nächsten Schreck: der Hund der anfängt zu bellen, laut, man kennt keine Hunde, man mag keine Hunde, und wenn sich die Türe ein kleines Stück öffnet, dann sieht man erst die Schnauze des Hundes, zum Bellen geöffnet, und seine Zähne unter den Zotteln seines Barts. Und der Hund wird angeschrien, dass er mit dem Kläffen aufhören solle und man hat Angst, vor dem Hund, der sich durch den Spalt auf einen stürzen könnte, vor den Besitzern, die ihn zurückzuhalten versuchen und schreien, schon wieder schreien, man hat Angst. Und man sieht in den Spalt in die Wohnung und da ist der kläffende Hund und es riecht komisch, nicht nach zu Hause, komisch, es sieht unaufgeräumt aus und da steht der Mann der Hausmeisterin im Unterhemd da und sieht einen mit kleinen, missbilligend funkelnden Augen – könnte man meinen – an: “Ja?” und “Herrgott, jetzt halt‘ amal die Schnauze, Drecksviech!” zum Hund.

Dass man die Post abholen wolle und den Briefkastenschlüssel, stottert man und fühlt sich wie ein viel kleineres Kind, als man eigentlich ist. Da müsse er nachsehen, wo das seine Frau gelassen habe, brummt er und schließt die Tür erst einmal wieder, wegen dem Hund wahrscheinlich, was einen fast schon wieder erleichtert aber doch auch ein wenig unhöflich erscheint. Dann öffnet sich die Tür wiederum ein wenig und durch den schmalen Spalt wird einem eine Tüte hingestreckt: “Da müsst‘ der Briefkastnschlüssl auch drin sein…” sagt er und man bemüht sich noch eben mit ein paar freundlichen Worten das kleine Mitbringsel loszuwerden, die Herkunft aus dem Urlaubsland zu erklären und sich noch einmal herzlich für alles zu bedanken. Schließt sich die Tür endlich, dann rennt man auch schon die Stiege hinab, das Gebell des Hundes und ermahnende Gekeife des Besitzers beinahe überhörend, man presst die Tüte fest an seine Brust und trägt sie durch den Nieselregen, am immer noch stark pochenden Herzen geborgen, zurück, zurück nach ‚zu Hause‘. Da, wo es heute immer noch so riecht wie zu Hause, wo man sich an den Küchentisch setzen darf und die Post sortieren, für die Eltern und einen selbst und die Urlaubspostkarten der Klassenkameraden lesen und zu Hause sein, auch wenn man der monatelangen Hitze nachtrauern mag, zu Hause sein.

Und am nächsten Tag ist der Geruch schon wieder unwahrnehmbar, bald geht man wieder in die Schule, spielt im Hof, aber der Enkel der Hausmeisterin ist nicht mehr da und man hört die Hausmeisterin nachts nicht mehr schreien und jammern, es ist beklemmend ruhig nebenan, man sieht sie überhaupt nicht mehr, die Hausmeisterin; und die Klassenlehrerin sagt, dass der Enkel wohl nicht mehr käme und in einem Heim sei und man versteht das nicht; im Haus sagt man sich, der Alte werde wohl auch bald rausgeschmissen, könne die Miete nicht mehr zahlen, gebe sein ganzes Geld für Schnaps aus und die Hausmeisterin hört man gar nicht mehr, sieht man gar nicht mehr.

Der unergründlichste Geruch ist der nach ‚zu Hause‘. Wenn man eines hat.

Kaya

Ja, ich heiße wirklich so. Ich heiße Kaya und bin trotzdem eine Frau.

Manchmal wundern sich Menschen darüber oder gehen einfach vom Gegenteil aus. Ich erhalte zum Beispiel regelmäßig Post an Herrn Kaya… Manchmal sogar Arztrechnungen. Obwohl die es ja nun wirklich wissen müssten. Wenn es Werbung an Herrn Kaya ist, dann besonders gerne auf türkisch und besonders gerne Autowerbung. Nur kann ich weder türkisch noch Auto fahren. Ein andermal erhielt ich einen Anruf von einer Frau, die ganz aufgeregt auf mich einredete. Ich verstand kein Wort, nur zwischendurch Kaya, aber sie verstand mich genauso wenig und es dauerte einige Zeit bis sie begriff, dass sie sich wohl getäuscht hatte und abrupt auflegte. Vielleicht sollte ich Türkisch lernen.

Das ist natürlich alles kein Zufall. Kaya ist ein türkischer Vorname für Männer (man denke etwa an Kaya Yanar), aber auch ein türkischer Nachname (dann für Männer und Frauen, versteht sich). Mir wurde mal gesagt, dass es auf türkisch so viel wie ‚großer Stein, Fels‘ bedeute. Das erzählte einmal ein Handwerker meinen Eltern, nachdem er sehr ungläubig von dem kleinen Namensschild an meiner Kinderzimmertür zu mir und wieder zurück geblickt hatte. Er war ein wenig schockiert.

Jedenfalls bin ich kein Fels in der Brandung und kann mich deshalb mit dieser Auslegung meines Namens nicht so gut anfreunden. Eine andere Übersetzung gefällt mir da schon besser, und zwar die aus dem jamaikanischen Wortschatz: Hanf heißt Kaya da, Gras, Marihuana, all sowas eben. Nicht umsonst gibt es ja auch eine ganze Platte von Bob Marley mit dem Titel ‚Kaya‘ und ein Lied darauf namens ‚I need Kaya now!‘. Das ist ein Ausruf, den ich mir oft von euch wünsche, kurz bevor ihr in Zukunft mein Blog lest. Von dieser Interpretation meines Namens wollen meine Eltern übrigens nichts gewusst haben, obwohl man sie durchaus beinahe in die Schublade ‚ehemalige Hippies‘ stecken könnte (nicht umsonst ein zeitweilig autarkes Aussteiger-Leben in Südfrankreich).

Was also wollten meine Eltern damit sagen? Meine Mutter eigentlich wenig, bis heute nennt sie mich meistens bei meinem ersten Vornamen (Kaya ist zwar mein Rufname, trotzdem aber nur mein zweiter Vorname), diesen benutzt sie dann aber in allen erdenklichen fremdsprachigen Aussprachen. Nur wenn sie gerade böse auf mich ist oder einfach besonders schlechter Laune, werde ich auch von ihr Kaya genannt. Mein Vater sagt immer, er habe mich nach der griechischen Erdgöttin Gaia benennen wollen, die Schreibweise und dieses Anfangs-G hätten ihm im Deutschen aber nicht so gut gefallen. Mehr Gründe hat er mir bisher nie geliefert.

Durchaus eine angenehme Assoziation, Ursprung der Welt und Anfang zu sein und ich war ja auch nicht umsonst auf einem humanistischen Gymnasium und habe fünf Jahre lang Alt-Griechisch gelernt. Hybris könnte man das demnach auch nennen, seiner Tochter den Namen der ersten aller Göttinnen zu verpassen. Und außerdem eine ziemlich blutrünstige und inzestuöse Geschichte, das Ganze. Aber damit muss ich dann wohl leben.

Nachtrag:

Das Schlimmste – erst gerade eben bei einer kleinen Recherche erfahren – kommt allerdings noch: Gaby Hauptmann hat eine bereits fünfbändige Jugend- und Pferde-Buchserie unter dem Motto Kaya – frei und stark veröffentlicht. Als Hörbuch gibt es Kaya auch schon, Nette singt die Kaya-Songs und zu guter Letzt soll das Ganze bald verfilmt werden. Pferde und Frau Hauptmann sind ja gar nicht so sehr meins. Wie die Dame wohl auf diesen schönen Namen gekommen ist? Jetzt bin ich wirklich entsetzt und desillusioniert… Da kann mich selbst der Zusatz ‚frei und stark‘ nicht trösten.

Noch ein Nachtrag:

Was man nicht alles lernen kann! Tatsächlich sind auch jede Menge Orte in aller Welt bereits nach mir benannt worden, komisch, dass die mich gar nicht gefragt haben. Ebenso ein Baum (japanische Nusseibe) und eine Marmelade (Kokosmarmelade). Wenn irgend jemand das Rezept für diese Spezialität aus Indonesien bzw. Malaysia hat (bestehend aus Zucker, Kokosmilch und Ei), dann bitte bei mir melden! Wie es sich wohl anfühlt, sich selbst zu kochen? Und dann ist ‚Kaya‘ auch noch ein Wort auf Nauruisch (ausschließlich auf Nauru gesprochen, dem kleinsten Flächenstaat der Erde, vom Versinken im Meer bedroht, mit dem weltweit höchsten Anteil an Diabeteskranken und ursprünglich mit einer monotheistischen Religion mit weiblicher Gottheit, 1888 von Deutschland annektiert und missioniert, durch Phosphatabbau zwischen 1970 und 1980 der zweitreichste Staat der Welt, dann verarmt, Deutschland zahlt jährlich 2,7 Mio. Euro Entwicklungshilfe an Nauru, noch mehr Informationen). Auf Nauruisch ist kaya also ein Adverb und bedeutet so viel wie ‚vielleicht, wahrscheinlich, womöglich, vermutlich‚, das gefällt mir gut! Ich stelle mir ein Gespräch zwischen mir und einem Nauruer vor: "Würdest Du mir sagen, wie Du heißt?" – "Vielleicht!"…

Naja…

Meta-Sprachspiel

Übers Schreiben zu schreiben ist, wenn man schreibt, ja ein beliebter Zeitvertreib. Es hat etwas sehr angenehmes und beruhigendes, so ein kleiner Text nur über das Schreiben. Der Text sagt dann nämlich ganz deutlich: ich bin nur klein, ich bin nur ein Text ‚darüber‘, ich selbst bin gar kein Schreiben, ich bin ganz schüchtern, ich stehe mit gesenktem Kopf und Blick in der Ecke und schiele höchstens mal schräg nach oben, um zu sehen, wer mich da betrachtet, mich armen, kleinen Text. Der Text meint damit: ich bin gar kein ‚richtiger‘ Text, für mich gelten keine ästhetischen Maßstäbe, ich muss gar keine ‚Kunst‘ sein, ich muss nicht schön sein, ich bin nur ein klitzekleiner Meta-Text und stehe außer Konkurrenz. Deshalb ist das Schreiben übers Schreiben so nett: der Schreiber hat das Gefühl, er könne gar nichts falsch machen, der Text ‚gilt‘ ja nicht, ist ja alles nur ein Spiel, nur eine Probe, nur ein Experiment, nicht im Ernst des Schreibens angekommen. Und während man so einen Text schreibt, muss man keinen anderen schreiben, der sich hoch aufrichten und gerade hinstellen müsste, Brust raus und rufend: hier bin ich, Kultur, Kunst, großartig, kreativ, neu und einzigartig! Vielleicht deshalb schreiben viele, die schreiben, so gern und immer wieder übers Schreiben, ich auch.

Wie ist das also mit mir und dem Schreiben? Was hat mein kleiner, verschüchterter, in der Ecke kauernder Text dazu zu sagen?

Dass das eine schwierige Sache ist, zwischen uns, dem Schreiben und mir. Dass ich früher viel geschrieben habe, täglich, seitdem ich sechzehn war, dass es nur so aus mir heraussprudelte und ich in der Schülerzeitung veröffentlichte und gelesen und gelobt wurde und genau wusste, in jedem Moment meines Lebens und Atmens die absolute Gewissheit hatte: das ist es, was ich einmal machen werde und will und muss, das und nichts anderes.

Ich bin mir inzwischen sicher, dass das nichts Außergewöhnliches ist, dass es vielen so geht, dass sie gerne schreiben und dann irgendwann damit aufhören, einfach so. Aber das macht es um keinen Deut besser.

Und was war es bei mir, warum nur habe ich aufgehört? Keine einfachen Antworten. Es tröpfelte so aus. Da war eine Konkurrenz zu anderen, die auch schrieben und die ich damals nicht aushielt, die mich hemmte statt beflügelte. Da war – so lächerlich das auch klingen mag – mit dem Schulabschluss auch das Wegfallen der Schülerzeitung und damit für mich das Wegfallen des Veröffentlichens, des Gelesen-, Wahrgenommen- und Gelobtwerdens. Irgendwann mal war da keiner mehr, dem ich meine Texte zeigen konnte und wollte. Und dann hatte es klammheimlich aufgehört, das Schreiben, einfach so.

Es war weg und es hinterließ sehr wohl eine Lücke. Manchmal das Gefühl, nur noch ein halbes Leben zu leben. Einen Schmerz, irgendwo. Ein Gefühl, dass ich mich verraten hatte, mein früheres Ich und meine Träume. Ein Gefühl der Leere. Und jedes Mal diese Trauer, wenn mich jemand aufs Schreiben ansprach oder selbst von seinem Schreiben sprach, ein Stechen und meine großen Augen.

Ich hatte die Hoffnung aufgegeben, fast. Ich habe gelernt, den Schmerz und die Leere auszuhalten. Manchmal habe ich Versuche gestartet und mich sofort wieder so unglaublich wohl gefühlt beim Schreiben, dass ich vor Freude hätte weinen mögen. Und trotzdem habe ich diese Versuche immer wieder sehr bald abgebrochen.

Ob es diesmal anders sein wird? Ich habe letzte Woche angefangen einen Text zu schreiben – der immer noch nicht ganz fertig ist – und es war ein unheimliches Glücksgefühl, es zu tun. Bei jedem Wort, bei jedem Satz dachte ich nur: was für ein Genuss, welche Freude, es geht doch, es geht, wieso dachte ich so lange, dass es nicht mehr geht? Da entsteht ja etwas, eine Geschichte, meine Geschichte und ich weiß noch nicht ob sie gut wird, aber ich liebe sie, jetzt schon. Ans Verbessern des Textes habe ich mich noch nicht gewagt, die Furcht, dass ich ihn beim Wiederlesen schlecht, unbeholfen, meinen Ansprüchen nicht genügend finde, ist doch recht groß. Ich hoffe, es gelingt mir.

Und schon als der Text erst angefangen war, habe ich Marc gefragt, ob er mir nicht einen Blog basteln könne. Einfach irgendetwas, wo ich meine Texte veröffentlichen könnte. Wo meine Texte vielleicht auf Menschen träfen, die sie läsen oder überflögen und vielleicht den einen oder anderen Kommentar hinterließen. Der Blog übersteigt meine Erwartungen, sehr hübsch finde ich ihn und passend für mich und der ein oder andere Leser hat sich doch tatsächlich schon hierher verirrt. Und obwohl ich eher zurückhaltend und zurückgezogen bin, war ich gestern sogar schon auf meinem ersten Bloggertreffen und habe mich sehr wohl gefühlt!

Ich bin guter Hoffnung. Dass das Schreiben diesmal nicht wieder aufhört. Ich weiß nicht genau, was das hier werden wird, wohin es mich führen wird, aber ich weiß, dass ein Aufhören nur sehr schwer erträglich wäre.

Jetzt ist mein kleiner Text über das Schreiben doch recht lang geworden und sonnt sich mit jedem Wort in seiner Kunstlosigkeit, aber das ist auch gut so. Er ist nur hier, um Mut zu fassen, aufdass der nächste sich aus seiner Ecke traut.

Nachtrag: den erwähnten Text kann man inzwischen übrigens hier lesen. 

traumanrufung

für Ingeborg Bachmann und Ilse Aichinger

nur einmal noch, traum,
hol‘ mich heim
nach galicien
denn ich mag nur
unter sternen und engeln sein.

und wenn auch
der letzte stern erloschen ist
und mich die engel nicht hören,
so eröffnet doch der traum
mir eine größere hoffnung
und ich trete ein
in tausend funken
lila.

September 2000