Krausser II

Nachdem ich über Helmut Kraussers erste Lesung ja schon sehr erfreut war (wie ich hier auch berichtet habe), fand am 29.11.2007 also die zweite der drei Lesungen im Rahmen der Poetikprofessur an der Ludwig Maximilians Universität München statt. Die dritte Lesung wird dann nächste Woche, am 6.12.2007, im Literaturhaus München sein.

Obwohl der Münchner Poetikprofessor Krausser nach der vollmundigen Ankündigungsrede von Dr. Claude D. Conter  angab, jetzt doch nervös geworden zu sein, war er diesmal von Anfang an deutlich entspannter als letztes Mal. Der Hörsaal der LMU war wieder so gut wie voll, der Dichter blieb wieder sitzen (und erklärte dies mit seiner Unfähigkeit, im Stehen zu reden) und war wieder komisch, ironisch, belesen, pathetisch und ein großartiger Vorleser. Um es vorwegzunehmen: ich war begeistert, beinahe noch mehr als das letzte Mal. Und um das auch einmal dazuzusagen: eine Vorlesung ist das natürlich nicht, was Krausser da macht. Der rote Faden ist sehr undeutlich ausgeprägt, tragend sind eher die Assoziationen und Einfälle des Autors, aber das ist auch ganz gut so.

Begonnen hat Helmut Krausser diesmal – natürlich ging es wieder um das Pathos – mit dem Julius Caesar von William Shakespeare, den man unbedingt lesen solle. Danach war lange nichts, sagt Krausser. Bis Georg Büchner kam und Dantons Tod. Das war es dann aber auch wieder mit dem chronologischen Vorgehen und ich kann nur ähnlich assoziativ aneinanderreihen, was mir gefallen hat bzw. was ich mitnotiert habe, das bitte ich zu entschuldigen.

Ganz anders als Alban Nikolai Herbst in seiner Heidelberger Poetik-Vorlesung befürwortet Helmut Krausser eine Trennung zwischen U- und E-Literatur überhaupt nicht und meint sogar, die E-Literatur sei zumeist marginal, beleidigt, von sich selbst eingenommen und messianisch, obwohl sie ein Randdasein friste. Man solle doch lieber den Reichtum des Nebeneinander anerkennen und genießen. Krausser ist der Meinung, gute Literatur müsse es auch mit Harry Potter oder einem Computerspiel aufnehmen bzw. auch eine Dreizehnjährige ohne viel Leseerfahrung begeistern können.

Außerdem verteidigt er sich dagegen, einen konservativen Literaturbegriff zu haben, er sei eigentlich kein Romantiker und kein letzter Mohikaner, kein Traditionalist, sondern stehe für einen Mix von alt und neu, die Gleichzeitigkeit aller tradierter Formen, die in der Moderne möglich sei. Und die Mannigfaltigkeit der Gegenwart könne nur dadurch ent- und bestehen, dass sie auch einiges enthalte, was ihm nicht gefalle.

Niemand sei heutzutage nur ein Mensch, wir sind mehrere, sagt Krausser, jeder von uns. Und deshalb müsse auch auf Verschiedenes unterschiedlich reagiert werden (und reagiert werden dürfen). Nur die Spießer unter den Autoren versteckten sich in irgendwelchen Höhlen und hinter ihrer einmal erreichten Unverwechselbarkeit, statt Neues auszuprobieren. Er sei also nicht reaktionär, sondern wolle lediglich über die komplette Bandbreite der tradierten Stilmittel verfügen. Überhaupt seien die Reaktionäre von heute oft die Revolutionäre von morgen.

In diesem Kontext spricht Helmut Krausser auch über Metrik und Reim, die lange Zeit nur noch in der komischen Literatur für angemessen gehalten worden seien und teilweise noch heute für moderne Literatur verdammt würden. Krausser ist dagegen der Meinung, dass unsere Zeit nach formaler Strenge giere. Allerdings sollten Dichter unter 30 doch keinen Reim benutzen, einfach weil sie ihn nicht beherrschten. Jeder Vers sei eine Falle, man stehe mit einem Fuss im Grab und mit dem anderen auf einer Bananenschale.

Die Literatur des deutschen Sprachraums nach 1945 bezeichnet Krausser als suhrkampgetränktes Pathos-Vakuum, enstanden durch die Abscheu vor allen Stilmitteln der Nazis, u.a. auch vor dem Pathos. Das Existenzrecht der Literatur habe nur noch im Experiment bestanden, die Schriftsteller wollten nicht mehr bezirzen und bezaubern, dadurch sei das ‚Dienstleistungsverhältnis‘ zwischen Autor und Lesern beschädigt worden. Stattdessen hätten die Autoren ihre Leser nun erziehen wollen, was nichts anderes sei als gutgemeinte Verachtung, der Wunsch nach Unterhaltung bei den Lesern sei diesen von den Schriftstellern sogar übel genommen worden.

Gerade wegen dieses ‚Pathos-Vakuums‘ im deutschsprachigen Literaturraum habe hier Charles Bukowski so großen Erfolg haben können, nicht nur was er schrieb sei interessant gewesen, sondern auch wie er schrieb. Bukowski habe immer viel gewagt und getrunken und es sei keineswegs peinlich, ihn auch noch in höherem Alter zu lesen und gut zu finden. Besonders Bukowskis Lyrik lobt er.

Das Problem sei, dass dieser Literaturgeschmack der deutschen Nachkriegszeit (aus Unsicherheit im Urteil) in den Redaktionen noch weiter gepflegt würde wie ein uraltes, krankes Pferd, das einfach nicht verrecken wolle. Erst jetzt seien im Roman wieder narrative Strukturen ohne formale Experimente möglich und erlaubt. Folglich müssten die Autoren auch wieder lernen, das Stilmittel des Pathos sicher zu handhaben.

Irgendwo dazwischen kommt ein Gedicht von Dirk von Petersdorff namens Raucherecke (das man hier nachlesen kann und das dem Band Die Teufel in Arezzo entstammt), das sei das einzige, worum er den Dichter beneide. Außerdem spricht Krausser sehr positiv von Ian McEwan und seinem Roman Abbitte, nicht ganz so positiv von Ernest Hemingways ‚Kriegsgewinnlerpathos‘ und noch etwas negativer von Ernst Jüngers Roman In Stahlgewittern, der literarisch eigentlich nicht wertvoll und nur ein Tatsachenbericht sei (dem man daraus dann aber auch keinen Vorwurf machen dürfe, der Humor der Protagonisten dürfe keineswegs dem Autor angekreidet werden).

Zuletzt ärgert sich Krausser noch über das angemaßte Gutmenschentum eines besserwisserischen Trommelzwergs, der allen auf die Nerven gehe und macht einen kleinen Schlenker zu Louis-Ferdinand Célines Reise ans Ende der Nacht. Hier schließt Krausser mit der Frage, ob Kunst ihre Nebenwirkungen auf einem Beipackzettel mitteilen müsse? Dies sei ein schwieriges Thema, das er unbeantwortet lässt.

Kraussers Randbemerkungen zum Pathos: Pathos sei wie ein Messer – gefährlich in der falschen Hand. Hohles Pathos müsse nicht bekämpft werden, denn es platzt von selbst, wenn es sich bläht. Pathos sei Kokain für unsere ratio, ein galoppierendes Pferd unter unserem Arsch, ein Rauschmittel. Pathos sei natürlich nicht typisch deutsch. Pathos sei verbunden mit Eros (denn in der Adoleszenz, in den Jahren, in denen Eros zum bestimmenden Trieb werde, sei das Pathos ein wichtiges Ausdrucksmittel; manche Menschen seien nur ein Mal im Leben kreativ und zwar, wenn sie um ihre erste Liebe würben).

Pathos sei auch mit Thanatos verknüpft (obwohl der Tod allgemein sehr zu begrüßen sei, werde er individuell weniger positiv gesehen, führe zu Quengeleien und Widerspruch und zum Pathos des Leidens, letztlich zum Pathos des Leidens zu Tode). Auch Pathos und Melodie hingen zusammen (auch Melodie, agitiere und errege, mache verrückt und entrücke; so sei das Misstrauen gegen die Melodie in der ernsten Musik nicht zufällig gleichzeitig mit dem Misstrauen gegen jedes Pathos in der Literatur aufgetreten, jetzt erst gäbe es auch eine Rückkehr der Melodie, denn die E-Musik müsse erkennen, dass sie in eine Sackgasse gelaufen sei).

Aus seinen eigenen Texten wählt Helmut Krausser diesmal wieder ein Gedicht (ein abgebrochenes Sonett) und Ausschnitte aus seinem Roman Eros, der ihm einmal mehr den Vorwurf des Kitsches eingebracht habe (das Pathos im Roman rechtfertigt er aber damit, dass es aus der Position eines Jugendlichen erzählt werde und kein Adoleszent sei jemals kitschig). Er beschäftigt sich kurz mit der Frage, warum sein Werk derart umstritten sei und selten lauwarme Reaktionen hervorrufe. Aber als Künstler könne man ohne Feinde nicht leben.

Seine letzten Sätze richtet Krausser an die ‚Suchenden und Schreibenden‘ unter den Zuhörern und rät ihnen: ‚Lassen Sie’s sein.‘ Es mache einfach zu viel Arbeit. Und denen, die es partout nicht lassen könnten, empfiehlt er, hin und wieder unmodern zu sein. Sich nicht allem aus der literarischen Tradition verpflichtet zu fühlen, es aber im Auge zu behalten. Man solle schreiben, wie man es fühle und keinesfalls so, wie man glaube, dass es andere von einem erwarten. Künstler seien schließlich nur der Wahrheit verpflichtet.

Hier geht es zu Krausser III und hier nochmal zu Krausser I

Herbstschmerz II

Herbstschmerz II

Alban Nikolai Herbst war so freundlich, meinen Text Herbstschmerz; süß, der in der Novemberausgabe von mindestenshaltbar erschienen ist, einem ‚kleinen Lektorat‘ zu unterziehen. Also habe ich die Perspektive deutlicher gemacht, gekürzt und umgeschrieben, hier ist die verbesserte Version:


Hingebreitet über den Fluss liegt die Brücke, aus dem Vogelblick, von weit oben, wirkt sie wie ein graues Betonband über der Strömung, die nicht so reißend ist, wie der Name des Flusses verheißt. Der Brückenbogen überwölbt das Grüngrau des sich voranschiebenden Wassers, an den Wellenbruchstellen weiß bekrönt, und die vergilbte Wiese daneben, von braunen Trampelpfaden durchzogen, von rostigen Bäumen bestanden, ein farbiges Aufbegehren vor dem Winterschlaf; darüber hängt, im herbstlichen Schräglicht, das tiefe Dunkelblau des spätnachmittäglichen Herbsthimmels.

Sich von oben nähernd wird langsam die unstete Lebendigkeit der Brücke sichtbar, das unaufhörliche Hin- und Widerfließen der Busse, Autos und drängelnden Mopeds, die darüberhin eilenden Fahrradfahrer, Fußgänger mit und ohne Kinderwägen, mit und ohne trottenden Hund. Noch weiter vorrückend werden Geräusche hörbar, ein Motorenlärmen und Kinderrufen, ein Geschwätz und Fahrradglockengeläut, Musikfetzen aus einem Autoradio, ein Hundebellen und Menschenlachen, Menschenstimmen, Menschenküssen; das Rauschen von Fluss und Herbstlaub übertönend.

Und in der Mitte der Brücke, an den Beton des Brückengeländers gelehnt, steht sie, direkt über dem Wasser und blickt starr darauf; ihr Haar fällt rostrot wie Herbstblätter auf ihre Schultern, vom Herbstwind bewegt, sanft. Sie sieht konzentriert auf den Fluss, drängt sich an die Wärme des von der tiefstehenden Sonne aufgeheizten Geländers, aber niemand zupft sie am Ärmel, niemand spricht sie an.

Ihr Blick sieht nicht den Fluss und die Farbpracht der Herbstschönheit und ihr Ohr hört nicht die Menschen, hört nichts inmitten des Lärms; in ihrem Kopf ist es dunkel, leer und still. Darin, in ihren Gedanken, ist kein Schrei der Verzweiflung, es ist leiser, sanfter und beständiger; ein Winseln und Wispern der Sehnsucht. Es ist kein stechender Schmerz, es ist ein süßliches, zähflüssiges Fließen einer nie versiegenden Quelle der süßen Qual. Und sie flüstert, beinahe lautlos, nur ihre Lippen formen die Worte:

Mein Herz blutet Dir nach. Mein Herz ist klein und mager und weiß nicht, wem es gehört. Mein Herz ängstigt sich, es zittert. Mein magres Herz liegt in Deiner Hand, die es presst und auswringt und bluten macht. Du bist die Stimme, Du bist der Atem und der Tod.

Ihre Lippen schließen sich, ihre Hände lassen das von der Herbstsonne erwärmte Geländer los, ihr Körper löst sich und sie geht davon. Von oben sieht man den Herbstwind ihr rostrotes Haar bewegen, sieht vergilbte Blätter fallen und den Fluss sich unter der darüber gebreiteten Brücke voranschieben. Ein Vogel durchstreift in den Schrägstrahlen des Herbstlichts den tiefblauen Abendhimmel.

Vater

Das Messer in der Hand des Mannes nähert sich dem Fuß des kleinen, blonden Mädchens. Der Mann hält den Fuß des Kindes sehr fest. Es ist ein gutes Messer, ein scharfes. Sein Griff ist schwarz mit silbrigen Nieten und seine Klinge ist gebogen. Ein scharfgeschliffenes Messer, das man zum Stutzen der Weinreben benutzt, zum Abhacken der jungen Triebe, zum Ernten der Traubendolden.

Der Mann und das Mädchen sitzen auf dem Boden, auf der von der südlichen Sonne gelbgedörrten Wiese, wie Stroh, in kurzen Hosen und ihre Gesichter sind braun. Es ist sein Blau in ihren Augen und das Blond seiner Jugend in ihrem Haar. Sie ist vier und sieht ihn nicht an, sie blickt auf ihren Zeh, dem sich das schwarze Messer nähert. Sie wehrt sich nicht, sie sitzt still, ihr Fuß in der Hand des Vaters.

Keine Angst in ihrem Blick, sondern das größtmögliche Vertrauen, das blindeste. Keine Besorgnis auf ihrem Gesicht, nur Neugier, Konzentration. Und wenn Gott selbst es befähle, der Vater würde ihr auch nicht ein Haar krümmen. Unwiederholbar einmalig ist diese absolute Gewissheit des Kindes, dass ein Mensch ihr nur das beste will.

In der Annäherung des Messers liegt Zärtlichkeit. Es findet den Dorn im Zeh, es holt ihn hervor, befreit vom Schmerz, fügt keinen zu.

Sie schichten Holz fürs Feuer und grillen Lammfleisch und Courgettes, die ledrig werden wie Schuhsohlen. Sie blicken in den Himmel, als es dunkel wird und zählen Sterne und Sternschnuppen, auf dem Rücken liegend. Unwiederbringliches Aufgehobensein in den Armen des Vaters.

Mein Vater hat heute sechzigsten Geburtstag und es ist nur das beste, was ich ihm wünsche.

Anmerkung: Genesis 22,1-19

Engel

Esst mich, Engel,
habt keine Scheu,
seid ein Fluss um mich,
der mich flüsternd ertränkt,
seid ein Seil um den Hals,
das mir den Atem nimmt,
seid ein Schrei auf den Lippen,
der mich ertauben lässt,
seid ein Blitzen in den Augen,
das mich blind geblendet,
habt keine Scheu,
beißt in mein Herz,
das mich lebend erhält
und umbringt.
Fresst mich, Engel!

angeregt von Gedichten von Alban Nikolai Herbst und Texten aus seiner Schreibwerkstatt.

Ich will Dich

Meine erste Begegnung mit Hilde Domin war eine unangenehme: die Abiturprüfung im Leistungskurs Deutsch, welche eine Interpretation des Gedichtes Nur eine Rose als Stütze im Vergleich mit einem anderen Gedicht, das ich vergessen habe, verlangte. Eigentlich eine Schande für meine Lehrer (und vielleicht auch für mich), dass sie mir bis dahin unbekannt geblieben war. Trotz der widrigen Umstände verliebte ich mich sofort und besorgte mir bald darauf einen kleinen Band ihrer Gedichte. Im Germanistik-Studium ist sie mir nicht wiederbegegnet, aber sie war immer irgendwie da und ab und zu habe ich eines ihrer Gedichte gelesen. Und deshalb habe ich mich sehr gefreut, als ich jetzt von dem Dokumentarfilm Ich will Dich über Hilde Domin erfahren habe.

Der Dokumentarfilm von Anna Ditges läuft nur in einem einzigen kleinen Kino in München, um 18.15 Uhr und diese Woche, die zweite, ist die letzte. Unverständlich. Der Film kommt der alten Dame Domin, 95-, 96-jährig, unheimlich nah, manchmal fast respektlos nah, die Unverschämtheit wird nur aufgehoben durch die Freundschaft der beiden Frauen, die beinahe 70 Jahre trennen. Hilde Domin kann in diesem Film erlebt werden in ihrer Verletzlichkeit, auch ihrem Zorn, ihrer Müdigkeit, ihrem kränkelnden Altern, ihrer Zärtlichkeit ihren Eltern gegenüber, in ihrer Trauer um ihren Mann, ihrer Einsamkeit, in ihrer Wachheit, ihrer spröden Freundlichkeit und ihrem Humor. Sie sagt oft ‚gell‘ und ‚ja‘ und ‚das ist klar, ja‘ und auf die Aussage: ‚Du siehst gut aus!‘, antwortet sie nur: ‚Das kann nicht sein.‘

Und was sagt nun die Dichterin zu Gedichten? Gedichte kämen aus Momenten der Erregung. Man schreibt Gedichte, wenn sie kommen, sagt Hilde Domin. Was man dazu brauche? Das sei ganz einfach, sagt sie, einen Stift und Papier. Und dann kann man sie abtippen, dadurch werden sie fremder, dann kann man sie verbessern.

Ich empfehle diesen Film unbedingt, ich empfehle ihn allen, die Gedichte mögen, nein, allen, die Literatur mögen, nein, allen, die Filme mögen, nein, allen, die Menschen mögen, allen.

Aber das letzte Wort soll Domin selbst haben:

Nur eine Rose als Stütze

Ich richte mir ein Zimmer ein in der Luft
unter den Akrobaten und Vögeln:
mein Bett auf dem Trapez des Gefühls
wie ein Nest im Wind
auf der äußersten Spitze des Zweigs.

Ich kaufe mir eine Decke aus der zartesten Wolle
der sanftgescheitelten Schafe die
im Mondlicht
wie schimmernde Wolken
über die feste Erde ziehn.

Ich schließe die Augen und hülle mich ein
in das Vlies der verläßlichen Tiere.
Ich will den Sand unter den kleinen Hufen spüren
und das Klicken des Riegels hören,
der die Stalltür am Abend schließt.

Aber ich liege in Vogelfedern, hoch ins Leere gewiegt.
Mir schwindelt. Ich schlafe nicht ein.
Meine Hand
greift nach einem Halt und findet
nur eine Rose als Stütze.

(Hilde Domin, in: Nur eine Rose als Stütze. Gedichte. Frankfurt a.M.: Fischer 1994, S.55) 

Literaturtips: 

Überquerungen

Wie Menschen über Plätze gehen: ob sie sich vorsichtig am Rand des Platzes entlangschieben mit hängenden Schultern, am Schutz der Häuserwände entlangschleichen wie eben in die Freiheit des Kinderzimmers entlassene Nagetiere oder ob sie hochaufgereckt und stolz über die Mitte des Platzes schreiten, mit langen Schritten.

Stilübung

Der Turmsegler hat angesichts seiner Wiederentdeckung der Stilübungen von Raymond Queneau zum Mitmachen aufgefordert, nach folgenden dürren Geschehnissen eine Variante zu schreiben:

Im Autobus der Linie S, zur Hauptverkehrszeit. Ein Kerl von etwa sechsundzwanzig Jahren, weicher Hut mit Kordel anstelle des Bandes, zu langer Hals, als hätte man daran gezogen. Leute steigen aus. Der in Frage stehende Kerl ist über seinen Nachbarn erbost. Er wirft ihm vor, ihn jedesmal, wenn jemand vorbeikommt, anzurempeln. Weinerlicher Ton, der bösartig klingen soll. Als er einen leeren Platz sieht, stürzt er sich drauf.
Zwei Stunden später sehe ich ihn an der Cour de Rome, vor der Gare Saint-Lazare, wieder. Er ist mit einem Kameraden zusammen, der zu ihm sagt: „Du solltest dir noch einen Knopf an deinen Überzieher nähen lassen.“ Er zeigt ihm wo (am Ausschnitt) und warum.

(Raymond Queneau: Stilübungen, Suhrkamp 2007)

Beim Turmsegler ist neben zwei weiteren Varianten von Raymond Queneau auch noch seine eigene zu lesen und hier kommt also meine, nur ganz schnell aus der Feder geschüttelt, denn eigentlich habe ich gar keine Zeit:


Wir sitzen im überfüllten Bus und fahren durch Paris, ich glaube nicht, dass mein Herr weiß, wo wir sind, wohin wir fahren, wohin er will. Er will nirgendwo hin, wartet nur darauf, dass er einschläft und sein Nickerchen noch eine Weile im warmen Bus fortsetzen kann, ehe er rausgeschmissen wird. Heute hat er sich nicht einmal ein Tuch über die Schulter gelegt, aber mir ist das egal, dann mache ich eben seine Lederjacke voll, an der kann ich mich sogar besser ankrallen. "Einen hübschen Papagei haben Sie da, so ein schönes, buntes Gefieder!", sagt die junge Frau, die in Ermangelung eines Sitzplatzes im Gang neben uns steht, freundlich. Mein Herr ignoriert sie, wendet nicht einmal den Kopf, wofür sie dankbar sein kann, denn sonst würde sie sein alkoholverpesteter Atem treffen. Ich ignoriere sie nicht, ich recke meinen Hals ein wenig, um ihr besser in den Ausschnitt ihres Kleidchens sehen zu können, sie hat den Mantel geöffnet, hier drin ist es auch wirklich warm und ich vertiefe mich in den Anblick ihrer vom Büstenhalter zusammengepressten Äpfelchen, zwischen denen ich gerne meinen Schnabel wetzen möchte.

Doch dann werde ich abgelenkt von einem Streitgespräch vor uns. Da wirft ein junger Kerl in alberner Kleidung einem anderen vor, ihn anzurempeln. ‚Putin‘, krächze ich, denn das tue ich bei jedem Streit, es scheint oft zu passen. Manchmal will mir dann jemand an den Kragen, manchmal verursacht mein Ausruf aber auch Heiterkeit, worüber der Streit dann vergessen wird. Doch der Ältere der beiden ist so hasserfüllt, dass er mich gar nicht hört, der Jüngere weint gleich. Der Bus hält, ich muss mich gut an der Schulter meines Herrn festhalten, Plätze werden frei, der larmoyante Jüngere setzt sich in die Reihe vor uns. Er trägt einen Hut mit Kordel, die ich mir gerne schnappen würde, ich recke mich vor, möchte sie schon in den Schnabel nehmen, da fährt der Bus wieder an und bringt mich in meine Position zurück. Ich strecke mich wieder, da fällt mir erst der widerlich lange Hals des Mannes mit Hut auf, dem meiner in diesem Moment gleichen muss und ich lasse das Projekt fallen.

Mein Herr ist inzwischen eingeschlafen und der blasierte Junge steigt an einer der nächsten Stationen aus. Wir fahren noch eine ganze Weile im warmen Bus durch die Stadt, bis sich jemand beschwert, dass mein Herr stinken würde, nach Alkohol und Pisse und er an der nächsten Station, der Gare Saint Lazare, einfach hinausgeworfen wird, mit mir. Mein Herr trottet ein wenig durch den Bahnhof, kauft sich am Bahnhofskiosk eine Flasche Schnaps und eine Dose Erdnüsse für mich und sucht sich dann eine Bank an der Cour de Rome, wohlwissend dass er drinnen nicht geduldet wird. Er legt seine Mütze vor die Bank, damit Passanten Kleingeld hineinfallen lassen, er trinkt, gibt mir auch einen Schluck und schläft dann weiter, in die Lederjacke gehüllt. Und dann kommt doch tatsächlich der langhalsige Typ aus dem Bus dort vorbei, er diskutiert mit einem Freund, der ihn auf einen Fehler an seinem Überzieher hinweist, da fehle ein Knopf und ich weiß, dass er denkt, dass so der lange Hals des larmoyanten Kerls noch länger aussieht, aber er sagt es nicht. ‚Knopf annähen‘, rufe ich, doch sie sind schon wieder vorbei.


 
Mich würde jetzt auch noch interessieren, was z.B. fabe daraus macht oder kid37 oder die Frau Engelin oder vielleicht gibt es dazu ein Gedicht von hor? Aber natürlich sind auch alle anderen recht herzlich eingeladen, eine Variation zu verfassen!