Ich will Dich

Meine erste Begegnung mit Hilde Domin war eine unangenehme: die Abiturprüfung im Leistungskurs Deutsch, welche eine Interpretation des Gedichtes Nur eine Rose als Stütze im Vergleich mit einem anderen Gedicht, das ich vergessen habe, verlangte. Eigentlich eine Schande für meine Lehrer (und vielleicht auch für mich), dass sie mir bis dahin unbekannt geblieben war. Trotz der widrigen Umstände verliebte ich mich sofort und besorgte mir bald darauf einen kleinen Band ihrer Gedichte. Im Germanistik-Studium ist sie mir nicht wiederbegegnet, aber sie war immer irgendwie da und ab und zu habe ich eines ihrer Gedichte gelesen. Und deshalb habe ich mich sehr gefreut, als ich jetzt von dem Dokumentarfilm Ich will Dich über Hilde Domin erfahren habe.

Der Dokumentarfilm von Anna Ditges läuft nur in einem einzigen kleinen Kino in München, um 18.15 Uhr und diese Woche, die zweite, ist die letzte. Unverständlich. Der Film kommt der alten Dame Domin, 95-, 96-jährig, unheimlich nah, manchmal fast respektlos nah, die Unverschämtheit wird nur aufgehoben durch die Freundschaft der beiden Frauen, die beinahe 70 Jahre trennen. Hilde Domin kann in diesem Film erlebt werden in ihrer Verletzlichkeit, auch ihrem Zorn, ihrer Müdigkeit, ihrem kränkelnden Altern, ihrer Zärtlichkeit ihren Eltern gegenüber, in ihrer Trauer um ihren Mann, ihrer Einsamkeit, in ihrer Wachheit, ihrer spröden Freundlichkeit und ihrem Humor. Sie sagt oft ‚gell‘ und ‚ja‘ und ‚das ist klar, ja‘ und auf die Aussage: ‚Du siehst gut aus!‘, antwortet sie nur: ‚Das kann nicht sein.‘

Und was sagt nun die Dichterin zu Gedichten? Gedichte kämen aus Momenten der Erregung. Man schreibt Gedichte, wenn sie kommen, sagt Hilde Domin. Was man dazu brauche? Das sei ganz einfach, sagt sie, einen Stift und Papier. Und dann kann man sie abtippen, dadurch werden sie fremder, dann kann man sie verbessern.

Ich empfehle diesen Film unbedingt, ich empfehle ihn allen, die Gedichte mögen, nein, allen, die Literatur mögen, nein, allen, die Filme mögen, nein, allen, die Menschen mögen, allen.

Aber das letzte Wort soll Domin selbst haben:

Nur eine Rose als Stütze

Ich richte mir ein Zimmer ein in der Luft
unter den Akrobaten und Vögeln:
mein Bett auf dem Trapez des Gefühls
wie ein Nest im Wind
auf der äußersten Spitze des Zweigs.

Ich kaufe mir eine Decke aus der zartesten Wolle
der sanftgescheitelten Schafe die
im Mondlicht
wie schimmernde Wolken
über die feste Erde ziehn.

Ich schließe die Augen und hülle mich ein
in das Vlies der verläßlichen Tiere.
Ich will den Sand unter den kleinen Hufen spüren
und das Klicken des Riegels hören,
der die Stalltür am Abend schließt.

Aber ich liege in Vogelfedern, hoch ins Leere gewiegt.
Mir schwindelt. Ich schlafe nicht ein.
Meine Hand
greift nach einem Halt und findet
nur eine Rose als Stütze.

(Hilde Domin, in: Nur eine Rose als Stütze. Gedichte. Frankfurt a.M.: Fischer 1994, S.55) 

Literaturtips: 

2 Comments for “Ich will Dich”

Schreibhemmungen Die Sprachspielerin

says:

[…] es dann natürlich erst recht nicht geht, denn Gedichte schreibt man eben, wenn sie kommen (wie Hilde Domin es so schön formulierte), nicht wenn man ein Gedicht schreiben will. Und die beste Strategie, sie am Kommen zu hindern, […]

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