Vom Trauen

Sie fragt sich, wieso sie sich nicht einfach mal traut. Wieso sie es nicht wenigstens einmal versucht. Es geht gar nicht darum zu springen, von hoch droben, ohne Seil, Netz und doppelten Boden. Es geht nur darum, ein Leben zu führen, wie sie es sich vorstellt. Und sie fragt sich, warum sie dazu immer zu viel Angst hatte.

Zu viel Angst, einfach Germanistik oder Philosophie auf Magister zu studieren und dann womöglich mit einem unbrauchbaren Abschluss dazustehen. Zu viel Angst über ein spannendes Thema zu promovieren, weil es doch so schwer ist, eine Stelle an der Uni zu finden. Und danach wird alles noch schwieriger. Zu viel Angst, um das Referendariat nicht anzutreten und sich einfach so nach Jobs umzusehen. Zu viel Angst, sich zum Beispiel als Übersetzerin oder Lektorin zu versuchen, denn die Aussichten sind doch so schlecht. Und natürlich viel zu viel Angst, das zu tun, was sie am liebsten möchte: einfach zu schreiben und zu sehen, wohin das führt.

Sie müsste sich nicht solche Sorgen machen, die Voraussetzungen sind eigentlich gut: ein Dach über dem Kopf, ein wenig Geld auf dem Konto, jemand den sie liebt an der Seite und Eltern, die sie nicht verhungern lassen würden (nimmt sie an).

Und jetzt hat sie ein Problem: sie hat keine Zeit mehr, sich auch nur annähernd um die Dinge zu kümmern, die ihr wirklich Spaß machen (Lesen, Schreiben, Lieben), weil die Arbeit und der Druck sie auffressen. Und sie möchte eigentlich gerne mit Menschen zusammensein und zusammenarbeiten, die sie respektieren. Sie will sich nicht erst ein klein wenig Respekt erkämpfen müssen, Tag für Tag, immer von Neuem. Mit Mitteln, die sie dazu zwingen, sich andauernd zu verstellen, die sie nicht mehr sie selbst sein lassen. Und sie möchte nicht dauernd die Leistungen anderer Menschen bewerten, auch das liegt ihr nicht. Fünf Tage die Woche eine Rolle spielen, die einem nicht passt, ist verdammt anstrengend. Fünf Tage die Woche kämpfen, ist verdammt aufreibend. Sieben Tage die Woche trotzdem sehr viel arbeiten ist keine gute Voraussetzung, um glücklich zu sein.

Sie fragt sich, wie es weitergehen wird. Ob sie sich gewöhnen wird. Ob sie sich gewöhnen will. Ob sie so werden wird, wie man werden muss, um diesen Job zu machen. Ob sie so werden will. Und sie fragt sich, ob sie sich eines Tages Vorwürfe machen wird, dass sie es nicht wenigstens einmal versucht hat so zu leben, wie sie sich das eigentlich vorstellt. Ob sie sich später nicht fragen wird, ob es nicht doch hätte klappen können und ob sie sich nicht verfluchen wird, dass sie sich nicht – nicht ein einziges Mal – getraut hat.