Herr Ernst

Darf ich vorstellen: die neue und wieder wunderschöne April-Ausgabe von mindestenshaltbar ist da, diesmal ohne Thema aber dafür mit Musik! Und in diesem ‚Heft‘ ist nach einer Pause auch wieder eine Geschichte von mir: Herr Ernst. Ich bin ganz zufrieden damit, sie ist richtig ‚handlungsreich‘ für meine Verhältnisse, also: rübergehen, Lesebefehl! Kommentare bitte gerne hier oder dort.

Noch ein Wort zur Musik zu meiner Geschichte: die ist vom großartigen Kevin Hamann alias Clickclickdecker alias My first trumpet. Der Mensch hat so viele verschiedene Musikprojekte, dass es zwar sehr erfreulich aber langsam auch ein bisschen unübersichtlich wird. Es gibt ihn erstens als Clickclickdecker (mit Homepage und Blog), das ist sehr sympathisch-melancholischer Gitarren-Indie-Rock mit deutschen Texten, die oft in einem absurd hohen Tempo vorgetragen werden, sehr hübsch! Als Click hat der Herr mich auch schon zwei Mal auf Konzerten in München sehr erfreut.

Außerdem gibt es dann aber eben My first trumpet, Clicks ‚Elektropop-Projekt‘, in das man bei mySpace reinhören und dessen Platte Frerk man sich hier komplett umsonst herunterladen kann (macht das unbedingt, es lohnt sich!). Aus dieser Platte stammt das Stück mit dem wunderbaren Titel ‚Autonarkose‘, das ich mir zu meiner Geschichte ausgesucht habe.

Letztlich ist Click zur Zeit aber am aktivsten mit seinem Projekt Bratze (auch hier mySpace, Homepage, Blog), das es sich sicher auch zu beobachten lohnt. Also, hört euch das an oder lest zu Click nochmal nach: in der Wissenswerkstatt gibt es einen Artikel zu „My first trumpet bezaubert mit Frerk“ und auch einen zu Click als „Überzeugungstätergitarrenrocker„.


Nachtrag: Nachdem mindestenshaltbar inzwischen eingestellt wurde, hier der Text nochmal komplett:

Herr Ernst

Vielleicht hätte man es an dem Christbaum merken müssen, der im März immer noch geschmückt auf dem kleinen Balkon stand. Vielleicht hätte man es einfach daran merken müssen, dass man dem alten Herrn Ernst gar nicht mehr im Treppenhaus begegnete. Aber nach dem Tod seiner Frau im Herbst war er ohnehin immer seltener aus der Wohnung gekommen und sein immer mürrisches Wesen machte es einem leicht, ihn nicht zu vermissen. Erst hinterher fragte man sich, ob man nicht etwas hätte bemerken müssen, fragte sich, warum man denn nicht an ihn gedacht und sich gesorgt hatte.

Seine Frau war ganz anders gewesen, das genaue Gegenteil, sehr lebhaft, lebensfroh und kontaktfreudig, jeden sprach sie im Treppenhaus an, sie lauerte den Bewohnern regelrecht auf, um sie in ein Schwätzchen zu verstricken und oft hörte man sie laut und mit schöner Alt-Stimme singen, tagsüber, wenn ihr Mann nicht zu Hause war. Während er in der Arbeit war, sang sie die alten Schlager aus ihrer Jugend und manchmal musste man sich dann ein Lachen verkneifen, wenn die alte Dame mit tiefer Stimme „Kann denn Liebe Sünde sein?“ oder „Warum soll eine Frau kein Verhältnis haben?“ trällerte. Ihr Mann hatte das gar nicht gern. Auch das Klavierspiel hatte er ihr verboten und ihr Klavier kurz nach der Hochzeit verkauft, denn das Musikmachen war ihm verdächtig und gehörte sich nicht für eine anständige Ehefrau, das war seine Meinung. Deshalb blieb es still, sobald er nach Hause gekommen war, sehr still, kein Gesang, kein Radio, kein Lachen mehr von Frau Ernst.

Sie vermisste ihr Klavier, sie sprach oft davon, wie sie als junges Mädchen Klavierstunden bekommen hatte und trotz ihrer kleinen Hände sofort Schlager spielen wollte, ohne lästige Anfänger- und Fingerübungen und wie ihr das auch gelungen war. Ihr Klavier hatte ihr Mann ihr genommen, aber ihre Stimme konnte er ihr doch nicht nehmen. Und so sang sie fröhlich und trotzig, auch ohne Klavierbegleitung, sobald er nur das Haus verließ. Jeden der Hausbewohner packte sie mindestens einmal nach einem Gespräch bei der Hand und führte ihn mit leuchtenden Augen in ihre Wohnung, wo sie stolz wie ein Kind ihren größten Schatz herzeigte: ein original Autogramm von Zarah Leander, ihrem großen Idol, extra für sie.

Man musste sie einfach mögen, die Frau Ernst, auch wenn sie einem manchmal gehörig auf die Nerven gehen konnte, wenn man es eilig hatte, sie einen aber doch im Gespräch festhielt. Ihr Tod kam plötzlich, kurz nachdem ihr Mann in Rente gegangen war, so plötzlich wie sie es sich immer gewünscht hatte. Auch ihre Mutter war damals mitten am Tag, im fahrenden Linienbus ganz unvorbereitet zwischen all den Leuten vom Schlag getroffen worden und sofort tot, wie sie erzählte, so wolle sie auch sterben, so ohne jede Vorwarnung, ohne Krankheit, ohne Schmerzen. Denn sie, sie sei niemals im Leben krank gewesen, nie, nicht einmal eine Erkältung habe sie jemals gehabt und sie könne es sich auch gar nicht vorstellen, auch nicht im Alter, das passe einfach nicht zu ihrer Rossnatur. Dann lieber kerngesund und plötzlich umfallen. Dieser Wunsch war ihr dann tatsächlich erfüllt worden, aber viel früher, als sie gedacht hatte.

Denn eigentlich freute sie sich sehr auf die Rente ihres Mannes, sie erzählte immer wieder begeistert von den Plänen, die sie für diese Zeit hatte, sie hätten ja endlich noch reisen, noch so viel erleben können! Ein Leben lang hatte Herr Ernst gearbeitet, von früh bis spät, auch für sie, sagte er, für sie, die keine Ausbildung hatte, weil schon ihre Mutter das nach dem Besuch der Hauswirtschaftsschule für ein gutbürgerliches Mädchen für überflüssig gehalten hatte, obwohl sie gerne etwas hätte lernen wollen, für sie hatte Herr Ernst gearbeitet, für die es sich seiner Meinung nach auch überhaupt nicht ziemte zu arbeiten. Anständige Frauen blieben zu Hause, machten den Haushalt, umsorgten den Ehemann und brachten abends pünktlich das Essen auf den Tisch, anständige Männer sorgten dafür für den Lebensunterhalt, so einfach war das.

Und dann war es endlich so weit, mit der Rente. Vielleicht ertrug sie es einfach nicht, diesen mürrischen Menschen und sein strenges Regiment plötzlich den ganzen Tag zu Hause um sich zu haben, ertrug es nicht, dass er ihr jetzt dauernd sagte, was zu tun war und sie bei jeder Regelübertretung ermahnte, dass er jedes Schwätzchen mit den Nachbarn, die für ihn Unbekannte waren, für überflüssig hielt und es missbilligte, vielleicht ertrug sie es einfach nicht, dass sie jetzt auch tagsüber nicht mehr singen durfte. Vielleicht entzog ihr seine reine Anwesenheit die Lebenslust. Jedenfalls lag sie eines Morgens einfach tot neben ihm im Bett, nur wenige Wochen, nachdem er seine Rente angetreten hatte, und an diesem Tag sah man den Herrn Ernst zum ersten und letzten Mal emotional aufgewühlt und erregt. Er lief durchs Treppenhaus und klingelte alle Nachbarn aus dem Schlaf, weil er nicht wusste, was er tun solle mit seiner toten Frau, weil er überhaupt nicht wusste, was er tun sollte.

Nach der Beerdigung von Frau Ernst, an der sämtliche Hausbewohner teilnahmen, zog Herr Ernst sich zurück und verließ die Wohnung nur noch schwarz gekleidet zu seinen seltenen Einkäufen, sprach mit niemandem, nur den lautgestellten Fernseher hörte man ab und zu durch die Wände. Nie bekam er Besuch, er hatte keine Freunde, seine Frau war wohl die einzige gewesen, die seinen strengen Charakter aushalten konnte.

Dann war es Frühling geworden, die Jahreszeit, in der Frau Ernst sonst Frühlingslieder gesungen und fröhlich den sorgfältig verteilten Weihnachtsschmuck gegen eine verfrühte Osterdekoration ausgetauscht hatte, die Jahreszeit, in der sie jedem, dessen sie im Treppenhaus habhaft werden konnte, froh erzählte, dass es in einem Frühling gewesen sei, in einem Frühling im Krieg, in dem sie ihren Mann kennengelernt habe, ein Frühling, in dem die Bomben noch die aufgerissenen Felder zu einem glühenden Blühen gebracht hatten. Freudestrahlend berichtete sie dann von ihrem „Ernstl“, wie „schmuck“ er damals in Uniform ausgesehen habe – wofür sie auch gerne Fotos als Beweis vorlegte – und wie glücklich sie damals mit ihm gewesen sei.

„Jaja,“, sagte sie dann, „eine Frau wird erst schön durch die Liebe.“ Wenn man „Ernstl“ aber kannte, dann musste man den Schluss ziehen, dass dies niemals an ihm hatte liegen können, sondern vielmehr Frau Ernst über die Fähigkeit verfügte, mit beinahe jedem Menschen, in beinahe jeder Situation glücklich zu sein. Ihre Augen verschatteten sich nur, wenn sie erzählte, dass sie keine Kinder hatten bekommen können, obwohl sie sich Kinder so sehr gewünscht habe, aber sie fand sicher sehr bald einen Grund, das Thema zu wechseln und fröhlich von etwas anderem zu sprechen. Vielleicht war sie dann lächelnd damit fortgefahren, dass nur der Nachname ihres Mannes nun wirklich nicht zu ihr passe.

In diesem Frühjahr, nach ihrem Tod, blieb der Christbaum, den Herr Ernst trotz allem im Dezember hinausgestellt hatte, bis in den März auf dem kleinen Balkon stehen, aber niemand wunderte sich, niemand dachte überhaupt noch an Herrn Ernst. Vielleicht hätte man einmal bei ihm klingeln, ihm Hilfe anbieten sollen, aber andererseits war man sich sicher zurückgewiesen zu werden und es schien doch alles in Ordnung. Auch roch man nichts, der Winter war kalt und Herrn Ernsts Sparsamkeit führte dazu, dass er die Heizung meist ausgeschaltet ließ. Erst als der große Briefkasten vor Werbung und Kontoauszügen überquoll, rief irgendwer aus dem Haus die Polizei, nachdem Herr Ernst auch nach mehrmaligem Klingeln nicht geöffnet hatte. Er musste schon im Dezember gestorben sein, Verwesung und teilweise Mumifikation waren schon fortgeschritten, als man ihn auf der Couch sitzend fand, auf seinem Schoß das alte Notenheft mit dem Autogramm von Zarah Leander.

3 Comments for “Herr Ernst”

konner

says:

Die Geschichte ist sehr gut, macht aber gehörig nachdenklich. Das Gute ist, dass sie nicht einseitig ausgebaut ist, zwar hat man ab und zu einen Hals, wenn man an Herrn Ernst denkt und zugleich tut einem dieser mürrisch gezeichnete, im Grunde einsame Mann leid. Genauso verhält es sich mit seiner Frau, der jedoch noch ein wenig mehr von diesen Gefühlsregungen entgegenschlägt (also das Mitleid).
Auch schön ist, dass da eine gehörige Portion Sozialkritik mitschwingt – das Vereinsamen von alten Menschen und deren tragisches Ableben.
Ich würde jetzt gerne ein bisschen weinen, verbiete mir das aber einfach mal. 🙂

Sprachspielerin

says:

Oh, danke für die Komplimente, schön dass meine Geschichte Dir gefällt. Und ’sozialkritisch‘ ist sie natürlich durchaus absichtlich! Also nicht weinen, lieber mal den Nachbarn fragen, ob er was braucht…

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