An Gräbern

An Gräbern

Er trat von hinten zu ihr ans Grab. Ein Hügel aus frischer Erde bedeckte es.
„Susanne?“, fragte er leise und ernst. Sein Blick war trocken, ihre Augen waren Wasser. Er zog seine dunkle Mütze vom Kopf, mitgenommen wie er selbst.
Susanne raffte ihren Mantel enger um die Taille, fror im sonnenlosen Oktoberwind, die Blätter fielen. Sie sah ihn an, kein Zeichen des Erkennens in ihrem strengen Gesicht, wie gestrafft von Trauer und dem zurückgekämmten Blondhaar. Es war so leicht, da war kaum ein Widerstand zu brechen.
„Ich habe erst jetzt davon erfahren. Ich lebe im Ausland“, er zögerte, wartete, ließ wirken. Sah mit ihr gemeinsam aufs frische Grab, beider Blicke parallel.
„Ich war ein Jugendfreund von Holger, sein bester.“ Er schluckte, sah sie an, ihre Augen Wasser, das Blau seiner Augen funkelte.
„Es tut mir so leid.“ Sie fror, zitterte. Er streckte ihr seine Hand hin, murmelte sein Beileid. Ihre kalten, schmalen Finger in seiner warmen Seemannshand, viel länger als nötig. Wie ein Tier in der Höhle entspannte sich ihre Hand mit der Zeit, wurde weich und schlaff. Bald, bald.
„Ich habe es nicht mehr zum Begräbnis geschafft.“ Unwahrscheinlich angesichts von Schnellzügen, Flugzeugen. Und doch. Man glaubte ihm gern. Sie nickte.
Kein Wort davon, dass er die Todesanzeige gelesen, sie beim Begräbnis beobachtet hatte. Er musterte sie erneut. Sie war groß und schlank, vielleicht etwas zu mager, zu beherrscht. Zu sichtbar war, wie selten sie ihrer Lust nachgab. Aber diese Witwen waren am einfachsten. Sie litten, sie froren. Sie hatten kaum Freundinnen und kannten auch nicht die Freude am Essen, die zu trösten vermochte. Er bevorzugte die mageren Witwen. Gleich. Sie kämpfte mit einer Träne, einer einzelnen, sie hatte schon genug geweint in letzter Zeit.
„Hat er leiden müssen?“, ein Blick genügte, um den Damm brechen, die Träne fallen zu lassen, zusammen mit ihrer Maske, um ihren Körper stärker zum Zittern zu bringen, näher zur Hingabe.
Der Wind wirbelte das gelblich-trockene Laub auf. Wieder raffte sie ihren Mantel um die Taille, als würde sie noch dünner werden wollen, ein Strich, fast unsichtbar. Zusammen mit ihrem Mantel versuchte sie, sich selbst zusammenzuraffen, unter Kontrolle zu bringen. Er fasste sie am Ellenbogen, sie ließ es geschehen.
„Gehen Sie mit mir essen?“, fragte er vorsichtig. Sie konnte nur nicken, nicht sprechen.
‚Nach langer schwerer Krankheit‘ hatte in der Todesanzeige gestanden. Susanne hatte ihn sicher gepflegt, vielleicht über Jahre. Sie hatte wenig Zuwendung bekommen, wahrscheinlich auch schon zuvor. Liebkosungen höchstens so, wie man einen Finger über die Glätte eines vertrauten Möbelstücks gleiten lässt, gedankenverloren. Aufmerksamkeit hatte sie empfangen wie ein Parkettboden, den man einmal im Jahr feierlich poliert, der aber ansonsten aus dem Bewusstsein verschwindet, weil er immerzu da ist.
Diese Witwen waren nicht verwöhnt und ihre jahrelang eingeübte Zurückhaltung machte seine Aufgabe zugleich leicht als auch schwer. So viel Hunger und nur die kleine Schwelle des Anstands, die er überwinden musste. Diesen Anstand hielten sie allerdings umklammert wie ihr letztes Gut. Er verführte sie wie Jungfrauen.
Im Restaurant sah sie ihm in die Augen, ernst und traurig, fragend. Er hielt dem Blick kaum Stand, musste sich sammeln.
Über dem Waschbecken sah er im Spiegel die beiden tiefen Furchen, die über seine Wangen liefen und die vielen Falten, die von seinen Augen auseinanderstrebten wie ein von Kinderhand gezeichneter Halbkreis aus Sonnenstrahlen. Die blauen Augen leuchteten aus seinem ledrig-braunen Gesicht und er glaubte wieder daran, dass er sie würde trösten können.
Oft fanden sie sich so wie bei einer Begrüßung eine Hand die andere, traumwandlerisch. Sie fügten sich ineinander ein wie Puzzleteile, er und die Witwe, und es war gut. Er vervollständigte nur, was nicht ganz war. Nichts war falsch daran. Ihre Trauer war seine.
Er setzte sich wieder zu ihr und ließ sich erzählen.

Für gewöhnlich mied er den Friedhof an Allerheiligen. Zu viele Leute, zu viele bekannte Gesichter. Aber heute zog es ihn an ihr Grab. Er hielt die Blume noch in der Hand, als eine rothaarige Frau neben ihn ans Grab trat, ernst. Ihr Blick war trocken, seine Augen waren Wasser.
„Es hat mich so erschüttert, als ich davon erfahren habe!“, stammelte sie und schüttelte ihre roten Locken im eisigen Wind. „Ich kannte Rose gut, wir sind gemeinsam zur Schule gegangen.“
Sie sprach ihren Namen falsch aus und sie log. Rose war in Frankreich in der Schule gewesen. Aber es war so einfach.
Er legte seine Blume auf ihr Grab, es war nicht mehr ganz frisch. Noch immer hatte er keinen Grabstein setzen lassen.
Sie legte ihre kleine, schmale Hand in seine, ihre Augen funkelten. Raubtierinstinkt, dachte er, und Einsamkeit. Erster November, es war eiskalt, er zitterte. Dann überließ er seine kalte Seemannshand ihren Fängen.