Organon

Es ist nicht leicht, zu denken, wenn die Orgel spielt. Es ist nicht einfach, nachzudenken, wenn die Orgel Dich bezaubert und bezirzt mit ihren Läufen, wenn sie Dich einwickelt mit ihrem säuselnd sanften Singen, wenn sie Dir Honig ums Maul schmiert, süß, wenn sie Dich lockt und verführt mit ihrem Sirenengesang, sich einschmeichelt bei Dir mit betörendem Klang. Es ist schwer, zu denken, wenn der Orgelklang anschwillt, die Orgel laut atmet, zu dröhnen beginnt und die Kirchenbänke zum Vibrieren bringt und Dein Herz gleich dazu. Es ist sehr schwer, zu denken, wenn die Orgel von dem Menschen gespielt wird, den Du liebst

Es ist nicht leicht, einen Menschen zu lieben, der glaubt, während Du nie einen Glauben hattest. Manchmal sitzt Du bei ihm auf der Empore und beobachtest seine schlanken Hände, wie sie über die Tasten wehen und die Füße, die die Pedale treten und wie er laut und heftig ein Register zieht. Und Du denkst an seine fliegenden oder heftigen Finger auf Deiner Haut, aber wagst es nicht, Dich ihm zu nähern im Spiel. Du denkst daran, diesen Menschen, den Du liebst, dort auf der Orgelbank zu lieben, auf die Manuale gestützt, eines Nachts, wenn draußen stiller Schnee fällt. Er hat die Schlüssel, doch er küsst Dich in der Kirche nicht einmal auf den Mund.

Es ist nicht einfach, seiner Musik zu lauschen, süß und mächtig, unten im Kirchenraum, wenn der Boden unter Deinen Fußsohlen zu zittern beginnt und der Orgelklang Deine Sinne weckt, Deinen Körper mit Gänsehaut überzieht und Du kannst Dich nicht einfach wehren gegen die Verführungskraft, die Betäubungsmacht der Orgel. Denn die Orgel ist ein Werkzeug, wie der berauschende Weihrauch, wie die Höhe des gotischen Kirchenschiffs, wie das Gold am Altar und der schläfrige Singsang der Pfarrer, die Orgel ist ein Werkzeug, um den Menschen das Opium des Glaubens zu verabreichen. Und dennoch kannst Du die Orgel nicht hassen.

Du sitzt dort unten auf der hintersten Holzbank, deren Lehne sich Dir in den Rücken bohrt, Du frierst, weil sie diese Kirche nie heizen und alles in Dir sträubt sich gegen den Anblick des angenagelten Leichnams, übergroß vor Dir am Kreuz, es ekelt Dich, es würgt Dich, aber Du gehst nicht. Es ist schwer, den Menschen, den Du liebst, Orgel spielen, das Werkzeug bedienen zu hören und trotzig sitzen zu bleiben, wenn der Pfarrer zum Aufstehn oder Niederknien aufruft. Es ist seltsam, die anderen Menschen vor Dir zu beobachten, die so gut wissen, was sie tun müssen, was sie sagen müssen, im Gottesdienst, die es eingeübt haben von Kindheit an, nur Du nicht, und die Dir wie Marionetten erscheinen, von unbekannten Befehlen bewegt.

Du kannst an Nietzsche denken, an Feuerbach und Marx und dennoch übermannt Dich die Macht der Orgel, verscheucht jeden Gedanken, macht Dich zittern und beten zu dem Menschen, den Du liebst und der die Orgel spielt. Seinetwegen kommst Du in die Kirche, seinetwegen sitzt Du auf der kalten Bank, seinetwegen möchtest Du die Hände falten, nur seinetwegen würdest Du niederknien. Manchmal neidest Du dem Menschen, den Du liebst, den Gott, den er hat, denn er gibt ihm Halt, den Du nie finden wirst. Und manchmal neidest Du seinem Gott ihn, denn er gibt seinem Gott Liebe, die er Dir vorenthält und Du willst nicht teilen und Du willst frei sein vom Glauben.

Es ist noch Jahre später schwer, wenn Du das Orgelspiel eines anderen hören möchtest, in der Kirche zu sitzen und dem Atem der Orgel zu lauschen, wie er durchs Kirschenschiff weht, wenn der letzte Ton verhallt ist und nicht zu weinen. Zu schwer war es, jemanden zu lieben, der glaubt, während Du nie einen Glauben hattest.

Zuerst erschienen in mindestenshaltbar: Organon, dort gibt es die Geschichte auch als Podcast, gelesen von Lisa-Maria Jank.

die Beste

Keinen Menschen kenne ich länger als die Beste, höchstens Verwandte. Ich lernte sie kennen, als meine Familie in die Wohnung neben der Familie der Besten zog, wir waren noch nicht drei und seitdem unzertrennlich. Wir teilten den Weg zum Kindergarten und das Spiel am Nachmittag, wir teilten Puppen und Bälle und Prinzessinnenkostüme, wir teilten das Hüpfgummi und den Hinterhof zum Ballspiel, wir teilten die selbsternannten Höhlen unter den Tischen und das Schiff, das mein großer Korb für uns war.

Wir teilten den ersten Schultag und fortan die Klasse der Grundschule, wir lernten gemeinsam schreiben, bekamen Michael Ende vorgelesen, wir fuhren gemeinsam ins Schullandheim und manchmal auch zusammen in die Ferien. Erst dann, zum Gymnasium, trennten sich unsere Wege und wir gingen jeden Morgen in verschiedene Teile der Stadt. Wir entfernten uns in manchen Zeiten voneinander, in anderen waren wir uns näher, aber wir verloren uns nie, die eine war immer da, für die andere, irgendwie.

Ich erinnere mich an den Tag, als wir uns zufällig vor der Haustür trafen und sie mir in Tränen in die Arme fiel, weil ihr Vater gerade gestorben war und ich sie hielt und dann wieder zurückgab in die Arme ihrer Familie. Eines werde ich mir nie verzeihen: Ich hätte nicht gehen sollen, in diesem Sommer, wohin wir beide hatten gehen wollen, auf die Sprachreise nach Frankreich, ich hätte bleiben sollen, auch wenn sie nicht sprechen wollte, ich hätte bleiben sollen und ihrer Trauer lauschen, ihr meine Schulter bieten und Tee kochen. Ich werde mir nicht verzeihen, dass ich gegangen bin, aber selbst das hat die Beste wohl schon getan.

Für längere Zeit fortzugehen, ins Ausland, ist ja meist sehr aufschlussreich, man sieht schnell, welche Freundschaften bleiben, welche Kontakte halten und wer einen vergisst, für ein Jahr. Die Beste hat mich nicht vergessen, keinen Tag lang, sie stand mir bei. Ich erinnere mich an den Tag, als mich eine Nachricht von ihr erreichte und ich sie aus der erstbesten Telefonzelle in Italien anrief, die Telefonkarte war leer als ich auflegte und sie ein wenig getröstet hatte, so weit es möglich ist. Die Beste war und ist es umgekehrt, die mir immer zuhört, was auch immer ich ihr erzählen möchte.

Wir sind sehr verschieden, wir teilen kaum die Geschmäcker für Essen, für Kleidung, für Düfte, für Männer und Musik, aber wir sehen es der anderen nach, wenn sie nicht unsrer Meinung ist. Unser Temperament unterscheidet sich und vielleicht deshalb ertragen wir uns nicht für längere Zeit ununterbrochen, dann gehen wir uns auf die Nerven, aber wir haben es auch schon lange nicht mehr versucht. Wir gehen nicht im gleichen Schritt durchs Leben, wir gehen in unterschiedliche Richtungen, aber dennoch irgendwie parallel zueinander, die andere immer im Augenwinkel. Seit den Kindergartentagen gehört die Beste zu meinem Leben, es wäre gar nicht vorstellbar ohne sie.

Manchmal verstehen wir nicht, wovon die andere redet, wie sie lebt, wen sie liebt und was sie will im Leben, aber wir hören ihr zu und versuchen zu begreifen. Das Experiment gelingt nicht immer, aber meistens. Manchmal haben wir keine Zeit füreinander und sehen uns lange nicht, aber das macht nichts, sobald wir wieder zusammensitzen. Ich weiß, dass die Beste mir verzeiht, wenn ich mich nicht melde und anderes, ich bin mir ihrer sicher. Und wenn sie Sushi machen will, dann weiß sie, wer ihr hilft, wenn sie zu Ikea will, zum dritten Mal in einem Monat, dann weiß sie, wer sie begleitet.

Sie ist die Schwester, die ich nicht habe, sie ist die, die ich nachts anrufen kann, sie ist die, auf die ich mich jederzeit verlassen kann. Sie ist die Beste, die beste aller Freundinnen und sie hat meine Liebe für immer.

Alles Gute zum Geburtstag!

Cadeau

Ich kann kein Französisch und ich weiß auch nicht, ob ich es noch lernen will. Als kleines Kind habe ich zwei Jahre in Südfrankreich gelebt und später war ich beinahe alle Ferien dort, im Haus im Dorf mit dem Schloss. Richtig gelernt habe ich es nie.

Aber Französisch ist die Sprache, in der mir jedes Jahr gesagt wurde, wie sehr ich gewachsen sei und in der ich gewarnt wurde, dass ich gleich herunterfiele von der Mauer vor unserem Haus. Französisch ist die Sprache, in der ich gefragt wurde, ob ich heute ans Meer fahre und die Sprache, in der ich schwieg mit Julien, als wir zwei waren und miteinander spielten. Ich erinnere mich nicht, wie wir uns verständigten.

Französisch ist die Sprache meiner Kindheit, einer südlichen Kindheit und kein deutsches Wort wird jemals die Süße der französischen Worte ‚bonbon‚, ‚gâteau‚ oder gar ‚cadeau‚ erreichen. Kein deutsches Wort könnte jemals die ungetrübte Kinderfreude in mir hervorrufen, mich mit weichem Wohlklang streichelnd. Denn kein Geschenk heute kann das Kinderglück herbeizaubern, das ich bei einem ‚cadeau‚ empfand.

Ich glaube, ich möchte kein Französisch mehr lernen, ich will die Erinnerungen nicht zudecken, ich möchte bleiben beim Halbverstehen und meiner schlechten Aussprache, beim Gestammel, wenn ich zu sprechen versuche, ich möchte bleiben bei meinen Fehlern, aber mir dafür den Zauber bewahren und den wohligen Schauer, wenn ich das Wort ‚cadeau‚ lese.

Pokal geholt

Gestern also habe ich wie angekündigt tatsächlich zum ersten Mal öffentlich vorgelesen. Bei der ‚Spontanlesung‘ im Münchner Literaturbüro konnte ich als dritte (von insgesamt vier Lesenden) meinen Text Bettgeschichten vortragen (eine verbesserte Version von Matratzenkitsch). Mein Text erntete wahrscheinlich am meisten Kritik, das ist aber auch ganz gut so, dadurch habe ich noch einige Denkanstöße bekommen, da ich den Text ohnehin noch einmal ganz umarbeiten möchte (danke an ANH für die Anregungen und an mehrschichtig für Verbesserungsvorschläge).

Der Text wurde sprachlich gelobt, einigen war er zu kitschig bzw. zu einseitig positiv, andere wollten die Auflösung, dass die Matratze erzählt, erst später im Text bzw. dies nicht so explizit hören, noch anderen war er schlicht zu lang. Gefreut hat mich das Lob meiner Sprache, am ‚etwas negativen‘ werde ich arbeiten, über anderes nachdenken, der Kitsch-Vorwurf trifft mich kaum: nicht umsonst hieß der Text anfangs Matratzenkitsch, er ist so angelegt und gewollt, das muss nicht jedem gefallen.

Dennoch wurde ich mit einer Stimme Vorsprung zur Tagessiegerin gewählt. Das bedeutet einerseits eine Flasche Wein (die noch gestern fast geleert wurde) und andererseits, dass ich im Februar zur Lesung um den 15. Haidhauser Werkstattpreis werde antreten dürfen, die im Gasteig stattfinden wird.

Hoch die Tassen!

Mein besonderer Dank geht natürlich an meine Eltern, an Katl und an Marc, die mir gestern ganz lieb zur Seite standen (und dann mit mir feierten), außerdem an alle, die zwar nicht kommen konnten, aber trotzdem ihre Daumen für mich gedrückt hielten.

Bettgeschichten

Bettgeschichten

Sie liegt rücklings auf mir und stöhnt. Ich spüre ihre junge, weiche Haut, die sich auf ihren Engelsflügelchen wegen des Sonnenbrands abschält, spüre das lange, über mich hingebreitete, gelockte Haar und die Kuhle ihres Rückgrats, die rauhe Hornhaut an ihren Füßen, die sich in mich stemmen, ich spüre die Rundung ihres kleinen Hinterns schwer auf mich drücken. Ihr Unterleib bewegt sich immer schneller auf mir und plötzlich flucht sie: „Diese Scheißmatratze, es quietscht bei jeder Bewegung, das macht mehr Lärm als ich!“ Dann lacht sie auch noch. Ich aber finde das nicht komisch.

Ich bin eine französische Federkern-Matratze, zehn Zentimeter dick, zwei Meter lang und einen Meter zwanzig breit, breit genug für zwei, die sich lieben oder besser: frisch verliebt haben. Seit fünfzig Jahren bin ich in diesem Hotelzimmer, ich habe Qualität. Ich muss mich jetzt beschimpfen lassen? Das Quietschen der Federn spricht nur für mich, es zeichnet mich aus als treu und ergeben. Ich stehe stets zur Verfügung, wenn jemand mich braucht, ich scheue keine Beschwerlichkeiten. Ich bin eine leidenschaftliche Matratze, ich könnte die Menschen hassen, aber ich liebe sie, sie sind alles, was ich habe. Ich liebe die, die auf mir leben, ich will sie fühlen und hören, ich mag es, wenn sie mich benutzen und beschmutzen, das ist mein Zweck. Ich liebe die Tragödien, die auf mir vonstatten gehen, ich liebe Ehebrüche und Entjungferungen, ich liebe das erste Mal und das letzte Mal, auch nach der Trennung, ich liebe den Schlaf, den bewegungslos erschöpften und den unruhigen, das Wachliegen und Hin-und-Her-Wälzen und ich liebe das Glück, das sich auf mir vollzieht, immer wieder.

Ich bin imprägniert von Schweiß und Blut, besudelt von Sperma und süß-saurer Frauenflüssigkeit, mit Speichel und Tränen und mit Urin und Rotwein und Kaffee, beschmutzt von den Menschen, die sich auf mir ausruhten, amüsierten, stärkten, betranken, rauchten, feierten oder trauerten. All das ist tief in mich eingedrungen. Mein blaues Blumenmuster ist verblasst, ich bin befleckt in unzähligen Farben, von verglimmenden Kippen durchlöchert, von Fingernägeln sprödgerissen, selbst gebissen wurde ich ab und an, aber auch geküsst vor Erwartung und vor Sehnsucht im Unglück.

Das Leben hat Spuren hinterlassen auf mir, ich bin nicht mehr makellos und nicht mehr schön anzuschauen und die dünnen Leintücher haben meine Fehler nur unzureichend bedeckt. Deshalb haben sie mir eines Tages einen Überzug verpasst, der die Befleckungen verstecken soll, mich auf allen Seiten fest umschließt und sich nach Plastik anfühlt. Ich erinnere mich an das Ruckeln des Reißverschlusses, es wurde immer enger und beengender und jedes Geräusch leiser. Wenn niemand im Zimmer ist, dann bin ich jetzt tatsächlich ganz alleine und langweile mich, ferne Geräusche dringen nicht mehr zu mir. Seitdem sie mich verpackten, schwitze ich, wenn die Sonne auf mich scheint, so wie heute. Ich spüre nicht mehr jeden sanften Windhauch, nur noch den Herbststurm, wenn jemand das Fenster geöffnet lässt. Der Vogelsang, das Rufen der Schwalben und Gurren der Tauben, das liebestrunkene Vibrieren der Luft und die Akkordeonklänge der Straße dringen kaum noch zu mir. Die Gespräche der Menschen muss ich erraten, wenn sie nicht direkt an mich, in mich sprechen, auf mir ruhend.

Das Zimmer, mein Zimmer ist klein, sehr klein, ich an Stelle der Menschen würde mich beschweren, aber die meisten, die hierher kommen, sind noch so jung, dass sie gar nicht wissen, wie das geht, nicht auf die Idee verfallen, es sei überhaupt möglich. Das macht sie angenehm. Oft ist es ihre erste Reise, ihre erste fremde Stadt gemeinsam mit ihrem Geliebten. Das Zimmer ist so eng, dass die Besucher nicht wissen, wo sie ihre Koffer abstellen, nicht wissen, wo sie überhaupt stehen sollen, man kann nicht einen Bogen schlagen um mich, man fällt geradezu auf mich, sobald man eintritt.

Ich mag das. Dann spüre ich ihre Körper, dann kann ich ihren Gesprächen lauschen, wenn sie mir nah sind, auf mir liegen, dann genieße ich. Vielen Gästen gefällt das auch und ich wundere mich dennoch ein wenig, wie oft sie wiederkehren im Laufe des Tages, wie kurz ihre Ausflüge sind, wie wenig Zeit sie in den Straßen dieser sogenannten Stadt der Liebe verbringen und statt dessen auf mir: mit Liebe. Gerade die Unumgänglichkeit des Niederfallens auf mich, die Unmöglichkeit eines anderen Tuns in diesem Zimmer scheint verlockend zu wirken. Das erfreut mich, jedes Mal.

Auch das junge Paar, das erst gestern hier angekommen ist, für das es noch viel zu entdecken gäbe dort draußen, auch sie sind heute bereits zum vierten Mal hier. Heute morgen leise, im Halbschlaf, mehr ein Schieben als Bewegen, heute Mittag nach dem mit Käse belegten Baguette, dessen Krümel auf mich niederregneten, nach dem Rotwein, laut und lachend, heute Nachmittag zärtlich und schläfrig vor einer kurzen Siesta und jetzt nur sie allein auf mir, das Becken kreisend, während er danebensteht.

„So geht das nicht!“, sagt sie. „Ach so, Du vertraust mir also nicht!“, er lässt sich neben ihr auf mich fallen, auch er jung, schlank, sein Körper fester als ihrer, sein kurzes Haar kitzelt mich. Er meint es nicht ernst, er ist sich ihrer so gewiss. „Doch,“ lacht sie, „ich vertraue nur der Matratze nicht.“ Ich will empört sein, bin aber schon viel zu beschäftigt mit dem Gerangel, das da entsteht, dem Armgewirr und Beinverknoten, dem lauten, schmatzenden Küssen und leisen Kichern, seinem neckenden Prusten auf ihrem Bauch, ihren flink-kitzelnden Händen an seinen Rippen. Dann wird es ruhiger, aber die Verknotungen lockern sich nicht.

Ihre Unterhaltung gleicht jetzt einem Gurren, er spricht mit den Lippen nah an ihrem Hals und sie lacht leise und hell, ihr Glucksen bringt mich zum Beben. „Du, Du,“ flüstert er und sein Mund wandert, er haucht es ihr in die Haut, „Du, Du…“ wiederholt er immer wieder überall in ihren Körper. Ihr Leib vibriert auf mir, aber nicht mehr vor Lachen. „Duuuuu…“, raunt er lange in ihren Schoß. Wie glücklich die beiden sind. Doch dann steht er ganz plötzlich auf. „Was tust Du“, sagt sie kichernd, „Du brauchst nicht vor mir niederzuknien, ich bin eine emanzipierte Frau!“, reicht ihm ihre Hand hinunter und zieht ihn wieder auf mich. Sie sitzt jetzt und dann spüre ich, wie seine Knie sich ihr gegenüber in mich bohren, die beiden scheinen sich an den Händen zu halten. Und es wird ganz still.

„Für immer?“ Er schluckt an seinem Speichel. Ein Zittern läuft durch mich, als sie „Ja“ wispert. Ich würde weinen, wenn ich könnte. Die in mir bewahrte Feuchtigkeit sammelt sich als Kondenswasser an meiner Plastikhülle und ich erwarte ein Erdbeben.

Das Beben wird lang, sanft und für die Ewigkeit, ich höre ihre Münder unaufhörlich aufeinander ruhen, ihre jungen Körper lasten auf mir wie ein einziger und einige Tropfen fallen auf mich. Dann höre ich die junge Frau telefonieren, mit der Rezeption. Was ich kosten würde, fragt sie, ob sie mich mitnehmen kann, nach Hause. Vollkommenes Glück.

Krausser III

Nachdem ich hier schon über die erste und zweite Vorlesung des Schriftstellers Helmut Krausser zu Pathos und Präzision im Rahmen der Poetikprofessur der LMU München berichtet habe, nun zur dritten Lesung am 06.12.2007, die diesmal nicht in einem Hörsaal der Ludwig Maximilians Universität sondern im Münchner Literaturhaus stattfand.

Krausser wollte diesmal vielleicht noch etwas arroganter und überheblicher erscheinen als die letzten Male, aber natürlich nicht ohne Selbstironie und seine Lesung mäanderte wieder ziemlich unstrukturiert, aber anekdotisch, unterhaltsam um ein Thema, auf das er immer wieder zurückkam, es von allen Seiten attackierend, das er diesmal aber immerhin klar benannte: "Gibt es das gute Buch?"

Er selbst täte sich schwer, über Poetik zu reden, denn er wechsle die seine bei jedem neuen Buch aus (und sie verändere sich auch, je mehr man sich dem Ziel eines Buches nähere) und diese Pose übersteigert Krausser noch, wenn er später behauptet, von Literatur überhaupt nichts zu verstehen. Für eine Poetik-Vorlesung sei er somit völlig ungeeignet und überhaupt bekäme er auch zu wenig Geld dafür. Schon gar viel zu wenig Geld, um uns tatsächlich etwas über Literatur beizubringen, denn die Konkurrenz auf dem Buchmarkt sei so schon hart genug.

Um diesen Buchmarkt, seine Unwägbar- und Ungerechtigkeiten und die Unwissenheit und Ignoranz mancher Kritiker geht es bei dieser Vorlesung sehr oft. Und außerdem natürlich um Perfektion, die ja eigentlich dazu führen müsse, dass ein Buch einfach von allen (also auch allen Kritikern) gut gefunden würde. Krausser stellt aber schnell klar, dass es nur eine ’subjektive Perfektion‘ geben könne, irgendjemand fände ja immer irgendeinen Mangel.

Der einzige Mensch, sagt Krausser, der Wesentliches zu einem Text zu sagen hat, sei dessen Autor. Denn niemand kenne den Text so gut wie er (womit er freilich Recht hat) und nicht jeder Text wisse mehr als sein Autor (womit ich mir trotzdem nicht sicher bin). Dass Autoren von Literatur so viel verstünden wie Vögel von der Ornithologie, das sei Unsinn, aber mit System. Der Autor wisse die Wahrheit über seinen Text, aber freilich müsse er sie nicht sagen, er könne lügen.

Jedenfalls sollten wir deshalb nicht auf unsere Professoren hören, die ja bekanntlich das Gegenteil von Krausser behaupten (sondern auf die Autoren), denn alle anderen, die über Texte redeten, seien nur Parasiten, die Literaturwissenschaft eine ganze Wissenschaft der Textaneignung. Das nennt man dann wohl (zusammen mit dem Vorwurf, zu wenig Geld zu bekommen) Gastgeber-Beschimpfung.

Diesmal bringt Helmut Krausser – immer noch nachdenkend über den perfekten Text – eigene Cover-Versionen bekannter Gedichte von Bertolt Brecht, Rainer Maria Rilke und Conrad Ferdinand Meyer, sozusagen ‚Updates‘, die unter anderem die sprachliche Aktualisierung im Sinn haben. An Friedrich Hölderlins Hälfte des Lebens traut er sich dann doch nicht, die ‚Verbesserungen‘ würden hier zu marginal ausfallen. Christian Morgensterns Das ästhetische Wiesel schreibt er dagegen ganz um, nur die Anekdote beibehaltend, denn an sich sei auch dieses Gedicht perfekt.

Perfekt sei auch der Satz von Charles Bukowski "Da waren Männer, die taten Dinge", zumindest im Kontext betrachtet und von sich selbst findet er auch ein, zwei perfekte Sätze und zumindest ein perfektes Gedicht, das er selbst jahrelang für defizitär hielt (es steht zusammen mit anderen perfekten Gedichten in Plasma). Krausser meint, dass der Mythos der Perfektion so manchem Schriftsteller posthum auch peinlich sein könnte und er legt Franz Kafkas ersten Satz aus Der Prozess auseinander, er hat viele verbesserte Varianten dafür: "Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet." So wie der Original-Satz von Kafka dastünde, könne man sich den Rest des Romans jedenfalls genaugenommen auch sparen.

Warum aber strebt ein Autor überhaupt nach Perfektion, wenn sie nur subjektiv und zeitabhängig ist, warum vertut man Zeit, in der man Texte schreiben könnte, deren Mängel den meisten Lesern gar nicht auffallen würden? Kraussers Antwort ist schlicht: Die Liebe zum Wort. Diese habe Gemeinsamkeiten mit der Liebe von Eltern zu ihren Kindern, Zuneigung und Eitelkeit sei hier vermischt. Trotzdem sei aber die Legende vom ersten Satz, der unbedingt sitzen müsse, Quatsch. Der beste Einstieg nütze nichts, wenn der Text schlecht sei, wenn der Text aber gut sei, verzeihe man auch den mäßigen ersten Satz. Perfektion im Roman sei ohnehin kaum jemals erreichbar, irgendwo sei immer ein kleiner Fehler, Perfektion im Gedicht aber hin und wieder schon.

Krausser führt selbst die Autoren an, die ihn geprägt hätten, da waren als erste Lektüre die griechischen Heldensagen, dann folgte Karl May (den er aus der Schulbibliothek stahl), mit 9 Charles Dickens, mit 10 Ephraim Kishon und später Max Frisch, Bert Brecht, Friedrich Nietzsche, Arthur Schopenhauer, Franz Kafka, Ernest Hemingway, Charles Bukowski, Louis-Ferdinand Céline, Knut Hamsun, Ernst Jünger, Fjodor Dostojewski, Gustave Flaubert, Robert Gernhardt… (die Liste ist sicher nicht vollständig).

Jeder Autor werde so beeinflusst von anderen Autoren und er mixe die verschiedenen Techniken, die er sich dort abschaue, bis das Ergebnis originär und originell auf den Leser wirke. Ein Autor, der ein Werk vorlegen wolle, der müsse sein erstes Buch auf jeden Fall vor 30 veröffentlichen. Was man dazu brauche, sei vor allem ein übersteigertes Selbstbewusstsein, etwas Talent und ein großer Wille, denn nur aus Größenwahn könne Größe entstehen. Sei das erste Buch auch immer fehlerbehaftet, so könne man aus einem gedruckten Buch doch viel mehr lernen, als aus einem unabgeschlossenen Manuskript, das zweite Buch könne dann besser werden. 

Trotzdem beschäftigt Krausser die Frage weiterhin, warum manche schlechten Bücher Preise bekämen und manche guten Bücher keine Beachtung fänden (und er bringt als Beispiel den beinahe vergessenen Friedo Lampe). Es sei ja so, dass jedes gute Buch auch Verrisse, teils bösartige Verrisse bekomme, außer das Buch sei so harmlos, dass es nicht einmal fähig sei, noch den kleinsten Hass zu erregen. Insgesamt sei das aber ein Glücksspiel (vor allem bei der Vergabe von Literaturpreisen) und Krausser bescheinigt der Literaturkritik ein zwangsläufiges Versagen. Literaturkritik sei am Ende lächerlich und auch wenn sie gut geschrieben sei, bliebe sie doch nur Kundenservice und Verbraucherinformation.

Ihm persönlich gehe Literaturkritik auf den Sack (nicht nur wegen der beiden Totalverrisse seines Romans Eros in der SZ und FAZ, die ihn viel Geld gekostet hätten). Die Leserbewertungen bei Amazon seien aber dasselbe in grün hinter den Ohren, nur oft noch viel blöder. Für ihn sei Literatur eine heilige Sache, aber als Autor dürfe man die Literaturkritik auf keinen Fall ernst nehmen. Das Problem sei auch, dass man sich nicht wehren könne, selbst wenn Dinge falsch dargestellt würden, ein Leserbrief sei jedenfalls nicht das Mittel der Wahl.

Existiere es denn wirklich nicht, das rundum gute Buch, das jeden Rezensenten an die Wand wirft?, fragt Krausser. Nein, antwortet er sich selbst, denn die Lektüre eines Buches sei von vielen Dingen abhängig, u.a. von der Bildung, der Lebenslage, der Stimmung, der Aufmerksamkeit, der seelischen Befindlichkeiten, es könne also gar kein allseits gutes Buch geben. Es gebe schlicht unterschiedliche Bedürfnisse, verschiedene Anforderungen an ein Buch, von Person zu Person, Jahr zu Jahr wechselnd (z.B. könne man ein Buch mit 16 grandios finden, es aber später belächeln).

Das Problem sei nur, dass Rezensenten, diese Halbtagsdiktatoren, sich wie beleidigte Kinder benähmen, die ihre Meinung hinausposaunten, als gälte es einen Kreuzzug zu führen und dass sie davon ausgingen, jedes Buch sei genau für sie geschrieben worden. Ein Literaturkanon wie der Marcel ReichRanickis sei nur deshalb bewundernswert, weil es ein Individuum geschafft habe, sich vor der Zeit aufzubrezeln.

Sehr angetan ist Helmut Krausser von Daniel Kehlmann, hier träfen sich ausnahmsweise einmal wieder Tiefe und Schönheit mit Lesbarkeit oder sogar Unterhaltsamkeit. Statt daraus zu folgern, Kehlmann sei nur ein ‚Unterhaltungsautor‘, sei es doch eigentlich logisch und sehr erfreulich, wenn sich endlich mal ein gutes Buch auch gut verkaufe.

Kraussers Blick auf die Zukunft: eine neue Romantik, ein neuer Idealismus, ein Sturm-und-Drang des Inneren deute sich zumindest an (auch wenn eine neue Epoche sicher neue Benennungen hervorbrächte). Die Behauptung, nach Joyce könne man nicht mehr auktorial schreiben, stamme von Autoren, die weder auktorial nocht sonst wie schreiben könnten. Ein Autor könne niemals etwas für die Nachfolgenden einengen, die einfachste Definition von Kunst sei schließlich immer noch ‚Bereicherung der Welt, Erweiterung des Horizonts‘, das stünde ganz im Gegensatz zu einer Einschränkung.

Den Willen zur Originalität, den Krausser in den letzten 50 Jahren in der deutschen Literatur walten sieht, hält er für hemmend, die Ergebnisse für verkrampft, man solle aus der Tradition schöpfen, aus ihr ins Eigene einfügen, sich aber nicht beschränken und in erster Linie solle man das Publikum unterhalten, Literatur sei schlichtweg ein Teil der Unterhaltungsindustrie. Kein Autor, sei er noch so ein großes Genie, sei unabdingbar und die Welt käme selbst ohne Hölderlin irgendwie klar (Krausser könnte auf seiner Meinung nach mittelmäßige Autoren wie Wolf Biermann, Heinrich Böll oder Stefan George aber gut verzichten). Das Volk sei heute nicht dümmer als früher, vielmehr lebten wir in einer gebildeten Zeit, man solle aufhören zu jammern und in Weimar hätte es auch nicht mehr oder bessere Schriftsteller gegeben, die hätten sich nur besser zu vermarkten gewusst.

Sensiblen Kreaturen wie sich selbst rate er aber von der Beschäftigung mit Kunst strikt ab. Er selbst sei eine schizophrene Persönlichkeit, mal mild, mal wütend, er verbiete sich nichts, denn sonst würde er ‚mit Kondom denken‘. Andererseits sei er mit sich selbst im Reinen, er habe in seinen Büchern nichts wider besseres Wissen verschwiegen, aber er könne ganz gut lügen.

Am Ende der Vorlesung spricht er also klar an, was man die ganze Zeit über als Eindruck mitnehmen konnte: Krausser bezieht gerne Position, baut sie gern groß auf und stellt sich mit Freude quer, gleichzeitig blitzt aber immer durch: vielleicht meine ich das auch gar nicht so, vielleicht posiere ich nur, vielleicht lüge ich, vielleicht ist es aber auch wirklich meine heiligste Überzeugung, man kann sich nicht sicher sein mit ihm und das ist sehr spannend. Schade, dass dies die letzte Lesung war.

Die Tagung bzw. das Kolloquium Helmut Krausser und die Gegenwartsliteratur der Romantik, das ebenfalls im Literaturhaus München stattfindet, geht noch bis zum Samstag, dem 08.12.2007, das Programm findet sich hier oder hier.

Hier geht es nochmal zu Krausser I und Krausser II.

Alban, Helmut, Fridolin

Es braucht nur drei hervorragende Schriftsteller, um mich glücklich zu machen.

Es reicht völlig, wenn Alban Nikolai Herbst offenbar so freundlich ist, Helmut Krausser zu berichten, dass ich hier über dessen Vorlesungen geschrieben habe und wenn dann Krausser so nett ist, mich nach seiner dritten und letzten Poetikvorlesung zu sich zu bitten und sich bei mir für diese Berichterstattung zu bedanken, weshalb er mir auch noch eines seiner Bücher schenken möchte, woraufhin er aber sein eigenes Buch selbst am Büchertisch käuflich erwerben muss und wenn mir dieser Gedichtband dann von keinem Geringeren überreicht wird als von Fridolin Schley, brav hinter dem Büchertisch wachend, dem diesjährigen Tukan-Preisträger der Stadt München (für Wildes schönes Tier), der mir bestätigt, dass auch er dieses Buch ausgewählt hätte (und ganz nebenbei: meinen herzlichsten Glückwunsch!).

Das genügt dann schon.

Jetzt halte ich also eine gewidmete Ausgabe von Plasma in meinen vor Aufregung zittrigen Händen, der Einband sieht so wunderbar trashig aus wie das Etikett eines schlechten spanischen Rotweins und ich werde ganz sicher dem zuwiderhandeln, worüber ich erst gestern schrieb: ich werde mich sofort ins Bett verziehen und einfach genüsslich lesen, Seite um Seite, Sonett um Sonett. Oder nein, vorher amüsiere ich mich noch ein bisschen darüber, dass andere im Saal statt meines Namens (Kaya Presser) ganz anderes gehört haben, z.B. "Wenn keine Presse im Raum ist, dann soll sie sich melden!" oder, noch schöner: "Wenn kein Erpresser im Raum ist, dann soll er sich melden!"

Wenn ich darüber ausreichend gekichert habe, werde ich dann auch über Kraussers dritte Poetikvorlesung im Münchner Literaturhaus berichten. Adios.

Studentenleid

Ich möchte einfach mal wieder in einen Buchladen gehen, stöbern, mir ein oder zwei Bücher aussuchen, sie mit nach Hause nehmen, mich sofort aufs Sofa oder gleich ins Bett fallen lassen und lesen, lesen, genießerisch und stundenlang lesen, nichts sonst.

Was hindert mich? Nur die immer weiter wachsenden Stapel von ‚Studienliteratur‘ und Klassikern, die man spätestens vor dem Examen gelesen haben sollte und das Gefühl, nie, niemals mit irgendetwas ‚fertig‘ zu sein. Es gibt immer noch mehr zu lesen und zu tun. Ich habe gar nichts dagegen, ich mag mein Studium und ich mag die sogenannten Klassiker, viele davon habe ich natürlich auch sowieso schon gelesen, aber die Liste nimmt einfach kein Ende und alles ist irgendwie wichtig und eigentlich würde ich das alles viel lieber ‚freiwillig‘ lesen und nicht aus dem Gefühl heraus, dass ich es muss. Und ich würde so gerne wieder einmal etwas einfach nur so zum Vergnügen lesen, etwas das zu nichts ’nutze‘ ist, die kleine Germanistin in mir vergessend, ein Buch verschlingen und nur lesen.

Stattdessen betrete ich schon gar keine Buchhandlungen mehr, weil ich Angst habe, ich könnte etwas finden, mich könnte etwas anspringen, was ich unbedingt mitnehmen und lesen müsste, obwohl ich doch gar keine Zeit dafür habe. Darum mache ich lieber einen weiten Bogen um diese teuflischen Orte der Versuchung.

Ich weiß, das alles ist Jammern auf hohem Niveau, wenn man halt sonst keine Probleme hat, aber ich würde so gerne einfach mal wieder in einen Buchladen gehen, mir Zeit nehmen, Bücherduft einatmen, Neuerscheinungen durchsehen, Taschenbücher abklappern und ein, zwei Bücher mit nach Hause nehmen, wo ich dann auf Sofa oder Bett…