Organon

Es ist nicht leicht, zu denken, wenn die Orgel spielt. Es ist nicht einfach, nachzudenken, wenn die Orgel Dich bezaubert und bezirzt mit ihren Läufen, wenn sie Dich einwickelt mit ihrem säuselnd sanften Singen, wenn sie Dir Honig ums Maul schmiert, süß, wenn sie Dich lockt und verführt mit ihrem Sirenengesang, sich einschmeichelt bei Dir mit betörendem Klang. Es ist schwer, zu denken, wenn der Orgelklang anschwillt, die Orgel laut atmet, zu dröhnen beginnt und die Kirchenbänke zum Vibrieren bringt und Dein Herz gleich dazu. Es ist sehr schwer, zu denken, wenn die Orgel von dem Menschen gespielt wird, den Du liebst

Es ist nicht leicht, einen Menschen zu lieben, der glaubt, während Du nie einen Glauben hattest. Manchmal sitzt Du bei ihm auf der Empore und beobachtest seine schlanken Hände, wie sie über die Tasten wehen und die Füße, die die Pedale treten und wie er laut und heftig ein Register zieht. Und Du denkst an seine fliegenden oder heftigen Finger auf Deiner Haut, aber wagst es nicht, Dich ihm zu nähern im Spiel. Du denkst daran, diesen Menschen, den Du liebst, dort auf der Orgelbank zu lieben, auf die Manuale gestützt, eines Nachts, wenn draußen stiller Schnee fällt. Er hat die Schlüssel, doch er küsst Dich in der Kirche nicht einmal auf den Mund.

Es ist nicht einfach, seiner Musik zu lauschen, süß und mächtig, unten im Kirchenraum, wenn der Boden unter Deinen Fußsohlen zu zittern beginnt und der Orgelklang Deine Sinne weckt, Deinen Körper mit Gänsehaut überzieht und Du kannst Dich nicht einfach wehren gegen die Verführungskraft, die Betäubungsmacht der Orgel. Denn die Orgel ist ein Werkzeug, wie der berauschende Weihrauch, wie die Höhe des gotischen Kirchenschiffs, wie das Gold am Altar und der schläfrige Singsang der Pfarrer, die Orgel ist ein Werkzeug, um den Menschen das Opium des Glaubens zu verabreichen. Und dennoch kannst Du die Orgel nicht hassen.

Du sitzt dort unten auf der hintersten Holzbank, deren Lehne sich Dir in den Rücken bohrt, Du frierst, weil sie diese Kirche nie heizen und alles in Dir sträubt sich gegen den Anblick des angenagelten Leichnams, übergroß vor Dir am Kreuz, es ekelt Dich, es würgt Dich, aber Du gehst nicht. Es ist schwer, den Menschen, den Du liebst, Orgel spielen, das Werkzeug bedienen zu hören und trotzig sitzen zu bleiben, wenn der Pfarrer zum Aufstehn oder Niederknien aufruft. Es ist seltsam, die anderen Menschen vor Dir zu beobachten, die so gut wissen, was sie tun müssen, was sie sagen müssen, im Gottesdienst, die es eingeübt haben von Kindheit an, nur Du nicht, und die Dir wie Marionetten erscheinen, von unbekannten Befehlen bewegt.

Du kannst an Nietzsche denken, an Feuerbach und Marx und dennoch übermannt Dich die Macht der Orgel, verscheucht jeden Gedanken, macht Dich zittern und beten zu dem Menschen, den Du liebst und der die Orgel spielt. Seinetwegen kommst Du in die Kirche, seinetwegen sitzt Du auf der kalten Bank, seinetwegen möchtest Du die Hände falten, nur seinetwegen würdest Du niederknien. Manchmal neidest Du dem Menschen, den Du liebst, den Gott, den er hat, denn er gibt ihm Halt, den Du nie finden wirst. Und manchmal neidest Du seinem Gott ihn, denn er gibt seinem Gott Liebe, die er Dir vorenthält und Du willst nicht teilen und Du willst frei sein vom Glauben.

Es ist noch Jahre später schwer, wenn Du das Orgelspiel eines anderen hören möchtest, in der Kirche zu sitzen und dem Atem der Orgel zu lauschen, wie er durchs Kirschenschiff weht, wenn der letzte Ton verhallt ist und nicht zu weinen. Zu schwer war es, jemanden zu lieben, der glaubt, während Du nie einen Glauben hattest.

Zuerst erschienen in mindestenshaltbar: Organon, dort gibt es die Geschichte auch als Podcast, gelesen von Lisa-Maria Jank.

2 Comments for “Organon”

konner

says:

Der Text ist einfach berührend, liebe Sprachspielerin. Selten habe ich so viel Ausdruck von Empfindungen in einigen, wenigen Zeilen entdeckt. Sie beweisen mir wieder einmal wie mächtig und bewegend Worte sein mögen, wenn sie an den geschicktesten Stellen gesetzt werden.

Vielleicht haben Sie mir auch ein Stück weit aus der Seele gesprochen, denn ich war auch einmal mit einem gläubigen Menschen zusammen, der mich am Tage des Todes von Johannes Paul II. hat sitzen lassen, am Tisch eines griechischen Restaurants. Einen Sommer später, war ich wieder frei, doch eine Kirche hab ich seither nicht mehr betreten.

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