Knopf im Ohr

Es gibt ja immer wieder diese traurigen Gestalten (nein, ich meine nicht Don Quijote), die ganz allein durch die Straßen einer Stadt laufen und murmelnd oder ziemlich laut Selbstgespräche führen. Das sind dann entweder Menschen wie der, der mir kürzlich ganz unvermittelt an einer Straßenecke zurief: "Nicht mit Negern schlafen!". Man lacht über sie, man hat Mitleid mit oder Angst vor ihnen, das hängt vom Typ ab, aber meistens geht man ihnen doch aus dem Weg. Die tragen sehr oft Plastiktüten mit sich herum.

Oder es sind solche, die stattdessen Aktentaschen und Anzüge tragen und bei denen man auf den zweiten Blick am Knopf im Ohr erkennt: die sind harmlos, die beißen nicht, die telefonieren nur. Auf den ersten Blick wirken die aber oft ähnlich befremdlich und aus der Welt, vor allem wenn sie nicht nur laut sprechen, sondern dazu auch noch raumgreifend gestikulieren. Man kann sie sehr leicht mit ersteren verwechseln.

Jetzt habe ich mich – bei allem Respekt – gefragt, ob das nicht ein Therapieansatz sein könnte: diese traurigen Gestalten, die laut mit sich selbst sprechen, allesamt mit Headsets auszustatten, damit es immerhin so wirkt, als seien sie ziemlich normal, als telefonierten sie nur? Wäre das nicht im Sinne einer sozialen Wiedereingliederung? Das Kabel vom Ohr müsste ja nicht einmal zu einem Handy führen, es reichte völlig, wenn es in irgendeiner Tasche verschwände (möglichst nicht in der Plastiktüte).

Dunkle Anzüge wären auch nicht schlecht, aber so ein Knopf im Ohr auf jeden Fall ein Anfang, manche Geschäftsleute ziehen sich ja auch schonmal etwas hipper an. Vielleicht würde man die traurigen Menschen dann für abgefahrene Profis aus der Werbung halten: man hätte jedenfalls keine Angst mehr vor ihnen, würde nicht mehr über sie lachen, man ginge ihnen nicht mehr aus dem Weg, höchstens Mitleid hätte man noch ein bisschen.

Oder sollte man doch lieber die, die meinen, andauernd mit Headset auf der Straße wild gestikulierend telefonieren zu müssen, zum Psychiater schicken?

Ich bin mir da nicht so sicher.

Nachtrag: neben der Forderung ‚Headsets für alle‘ tauchen jetzt auch Vorschläge für eine umgekehrte Camouflage auf, Bjoern empfiehlt hier in den Kommentaren etwa den Geschäftsmännern ein Deo mit der Duftnote ‚Leben auf der Straße‘ und Marc ruft in der Wissenswerkstatt zur Arbeit an einer "Entschubladisierung der Welt":

Wie wäre es, wenn Geschäftsleute zum Businessmeeting ihre Unterlagen in der ALDI-Tüte transportierten? […] Wann kommt der erste Professor mit lackiertem Bürstenhaarschnitt in die Uni? […]  Liebe Studenten, steht früh auf, noch bevor das Morgenkäuzchen schreit, wascht & rasiert Euch, holt den Konfirmandenanzug aus dem Schrank und geht hinaus in die morgendliche Welt und endeckt und fühlt, wie ihr angesehen und behandelt werdet – wie ein neuer Mensch?

Wie mir ein Dozent vor einigen Tagen erzählte, reichen tatsächlich schon kleinere Sabotageakte, um die Erwartungen anderer gründlich zu verwirren: da tauchte nämlich ein anerkannter, geradezu berühmter Professor (die man sich ja wie Gelehrte traditionell bleichgesichtig vorstellt) auf einer Tagung auf und war tief braungebrannt. Die Reaktion war ganz eindeutig: "Was, der hat all diese tollen Bücher geschrieben? Das kann doch gar nicht sein!"

Weitere Vorschläge zur Sabotage an der ‚Schubladisierung der Welt‚?

Hundert

Die ungefähr hundert Centimeter kleine und ungefähr hundert Jahre alte Französin, ganz zerknittert, schlank, elegant, mit wildem weißen Haar, die auf dem Odeonsplatz ihre Freundin oder Tochter lauthals und energisch anfährt: "Mais si, alors…" oder war’s: "Mince alors"? Hellwacher und energiegeladener, selbstbewusster und würdevoller kann man kaum sein, das ist doch ein Trost

Aimée

Aimée

ihr Name: Aimée, so musste man sich zu ihr stellen, Geliebte, Süße, im Dorf in Südfrankreich zur Weinerntezeit, Villerouge, ich achtzehn und sie dreißig, alt damals, für mich, reif, Herbst, dunkelbraunes, gewelltes Haar, fällt auf ihre Schultern, braune Augen, schlanke Größe und schön, so schön, Gesicht, strahlend, Strahleblick, ihre Augen, leuchtend, sehr dunkel und so groß, tief, Mund, wie reife Trauben, prall, saftig, diese Lippen, voll und weich, zartrot, ganz glatt, Kussmund, Herzmund, herbstlich-reif, Lippen zum niemals wieder vergessen, zum sich auf ihnen vergessen, ein Lächeln zum Niederknien, Niedersinken, vor ihr, sogleich verliebt, in sie, ein Küssenwollen, sofort, als wir uns erstmals trafen, trotz der Gedanken an Aimées verrückten Vater, früher, bei meinen Großelternbesuchen, als kleines Mädchen, kindliche Furcht vor ihm, Verrückter, fou-fou, der Vater, durch die Gassen schleichend, traurig gekrümmt, sinnloses Stammeln, Hundebellen, sein Zischen, immer Hunde um ihn, struppiges Fell, verdreckt, räudig, Augen blutunterlaufen, Zungen hängend, Zähne gefletscht, sein Rufen, den Hunden zu, sein wahnsinniger Blick, bedrohlich, mein Verschwindenwollen in der Häuserwand, drehte mich um, ganz langsam, und dann weglaufen, wegrennen, nur fort, fort von ihm, der Frau und zwei Kinder verlor, beim Unfall saß er am Steuer, übriggeblieben: Aimée und ein Bruder, Dorfgetuschel, der sei schwul, auch von ihr wissen es alle, hatte es selbst schon flüstern hören, über Zusammenhänge mit dem Unglück rätselnd, böse Zungen, Aimée war in die Stadt geflohen, vor dem Raunen, dann, viel später, zur Weinerntezeit in Villerouge, nach dem Aufstehen vor Sonnenaufgang, Eindringen erster Schrägstrahlen in den dunklen Himmel, Morgenkühle in den Gliedern, Frösteln, zu acht im Laderaum des umgebauten Lastwagens, auf harten Holzbänken, ihr Namennennen und der sofortige Gedanke: die Lesbe und wollte mich ohrfeigen dafür, Aimée mir gegenüber, Zuckermund im Halbdunkel, ihr Lächeln strahlt, sie sieht mich so an, eng, unsere Knie berühren sich beinahe, nur beinahe, kein Zusammenstoß, trotz Ruckeln des Wagens über Feldwege, die Feuchte des Weinbergs am Morgen, Geruch nach nasser Erde und reifen Trauben, Farbpracht des Herbstlaubs, dann Hektik, Angst vor dem Falschmachen, vorm Langsamsein, Schnellerwerden des Arms, dessen Verlängerung die Schere, der Schweiß unter den Handschuhen, Schwererwerden des Eimers, immer wieder Leeren und weiter, nur manchmal, leise, ihr Blick in meinem Nacken, wie die Sonne, die erst hervorkriecht und trocknet, dann wärmt, dann sticht, dann brennt, wie der Rücken zu stechen, die Beine zu brennen beginnen bei jedem Bücken, so beginne ich zu brennen für sie, aber kein Wortwechsel, mit ihr, Aimée, an den ersten Tagen, dann die Einladung zum Essen, von ihr, kümmert sich, denn meine Eltern sind nicht da, süße Luft an diesem Abend im Dorf, bei der Rückkehr vom Feld, süß, blutig und tot, vom Wildschwein, das groß und dunkel in einer Gasse liegt, Jagdsaison, der Geruch macht die Luft schwingen, ein rotes klebrig-dickflüssiges Rinnsal läuft das Sträßchen hinab, nur ein Blick von ihr, dann in meine Augen, ich sagte sofort Ja, Ja, Ratatouille, sie so mütterlich, reif, Rosmarinduft und Thymian, Tomatensoße dick und dunkel wie Wildschweinblut, dunkelrot wie reife Trauben, zum Nachtisch – mein erster Gedanke schon beim Eintreten – wir, wir, mehr Blicken als Essen, unsere Augen verschlingen sich gegenseitig, mit Blicken verschlingen wir unsere Münder, unsere Münder das Ratatouille, kauen, beißen und denken ans Küssen, Gier nach anderem, Hungrigerwerden statt satter, hungrig nach Berührungen, dann, ohne dass wir es bemerken, ein Kuss, uns an den Händen haltend, süße Frauenlippen auf meinen, wie reife Trauben, prall und weich, ein Zusammenstreben jeder unserer Fasern, hin zum Verwandten, Brüste auf Brüsten, voll wie überreife Trauben, unvorstellbare Weichheit, Neugier auf Nie-Erfahrenes, Aimées Augen, Aimées Mund, Aimées Lächeln, Aimée, neu, Geschmack nach Traubensaft, süß, Haut an Haut, zart, weiter unten Geschmack nach Traubenmost, noch süßer und vergorener, ihr Geruch in meiner Nase, neu, ihr Saft an meinem Mund, ihr Flüstern, wie schön Du bist, sagt sie mir immer wieder, immer wieder, wie schön ich bin, zwischen Küssen, Glück durchpulst mich, mein Blut vibriert in mir, beim Abschied, Dorfnacht und immer noch süßer Geruch nach Wildschweinblut, dann fragt sie doch noch, in der Tür: ob ich einen Freund hätte, ich sehe ihre Augen dunkler werden, es sind die wahnsinnigen Augen ihres Vaters, die mich anblicken, ich höre Hundebellen, will verschwinden in der Häuserwand vor Scham, nur ein Moment, bedrohlich, will wegrennen, ich rieche Wildschweinblut, dann der traurige Blick ihres verrückten Vaters in ihrem, gebeugt, Türenschließen und kühle Tränen auf meinen Wangen, drehe mich um, ganz langsam und kein Wortwechsel mehr, nur noch manchmal Aimées leiser Blick in meinem Nacken, weinerntend, kein Wiederberühren, kein Wiederküssen, nie

Opfer der Maskerade

Ein pummeliges altes Weiblein, dessen Kopfhaut unterm dünnen, fliegenden Haar freiliegt, dessen knittriges Gesicht von zentimeterdicker Schminke mühsam zusammengehalten scheint, zu greller Lippenstift, zu blauer Lidschatten und kreisrunde Rouge-Flecken auf den Wangen, zu dunkel, zu rot, zu kräftig, zu rund. Opfer der weiblichen Maskerade bis ins Alter, was sie selbst wohl im Spiegel sieht, ob sie sich schön erscheint statt lächerlich, ich wünsch‘ es ihr.

Minimale Literaturdosis

Ich habe jetzt, in der Vorbereitungsphase für mein Staatsexamen, einfach keine Zeit, Romane zu lesen, ich habe kaum Zeit, überhaupt etwas zu lesen außer der anstehenden Fachliteratur der deutschen und italienischen Philologie und den Geschichtsbüchern der griechischen Antike und frühen Neuzeit. Um aber dennoch in diesem Jahr zumindest eine tägliche, minimale Literaturdosis zu erhalten und literarisch nicht völlig zu verkümmern, habe ich mir zwei Strategien überlegt:


1. Der Autoren-Kalender 2008 der 42er-Autoren im Uschtrin-Verlag: darin findet sich nicht nur ein Serviceteil für Autoren und die Siegertexte des Putlitzer Preises 2007, sondern auch für jeden Tag die Beschreibung der Todesart eines Schriftstellers. Welcher das war, der eines solchen Todes gestorben ist, darf man selbst erraten oder im Lösungsteil nachschlagen. Das sind ja nun wirklich interessante Informationen. Außerdem gibt es aber auch jede Woche ein literarisches Zitat, das der ersten Woche dieses Jahres, von Charles Joseph Fürst von Ligne, fand ich hochgradig ergötzlich:

Es gibt Leute, die nachdenken, um zu schreiben. Wieder andere schreiben, um nicht nachdenken zu müssen.

Der Kalender gefällt mir jedenfalls sehr gut und erfüllt mehrere Zwecke gleichzeitig: 1. braucht man ja irgendwie einen, 2. liest man jeden Tag die Sterbeart eines Schriftstellers, ein dauerndes memento mori, 3. hilft es gegen meine seltsame Angst, bei steckenbleibenden U-Bahnen, Aufzügen oder in sonstigen Katastrophen- oder Wartefällen ohne Lesestoff zu bleiben, der schlimmstmögliche Alptraum für mich. Deshalb werde ich den Kalender brav mit mir herumschleppen und die Geschichten am Ende für eine solche Notsituation aufsparen.


2. Die zweite Strategie für eine tägliche, minimale Literaturdosis ist, dass ich dieses Jahr zum Krausser-Jahr erklärt und mir vorgenommen habe, alle seine Tagebücher zu lesen. Helmut Krausser hat ja bekanntlich 1992 damit begonnen, jedes Jahr einen Monat lang ein zur Veröffentlichung vorgesehenes Tagebuch zu schreiben, 1992 im Mai, 1993 im Juni, 1994 im Juli und so weiter und so fort, einmal durchs Jahr durch, aber eben über 12 Jahre hinweg (was mir erst jetzt aufgefallen ist: wieso gab es im Jahr 2000 eigentlich kein Tagebuch? vgl. Übersicht unten).

Jedenfalls habe ich einfach am 1. Januar angefangen, mit Helmut Kraussers 1. Januar 2001, ich lese jeden Abend genau den Eintrag, den er zum jeweiligen Tag geschrieben hat und habe vor, das dieses Jahr durchzuhalten. Ich bin jetzt, nach 12 Tagen schon auf viele hübsche Stellen gestoßen, auf alltägliche und sehr persönliche, auf Kommentare zum Schriftstellerleben, zum Wetter, zu Büchern, Musik, Fernsehprogramm und Filmen oder Franka Potente oder z.B. auf eine lyrisch-kryptische:

bis wir betrunken in toten sprachen singen mit den geliehenen stimmen der engel.

Helmut Krausser: Tagebuch Januar 2001, Reinbek: Rowohlt 2003, Eintrag zum 7. Januar, S.56

Es finden sich auch Gedichte von Krausser inmitten des Tagebuchs oder so etwas wie ‚Entwürfe‘:

Der Glühwurm, der sich in Liebe zum Abendstern verzehrt, der sich eines Nachts aufmacht, seiner Geliebten mutig zufliegt, hinauf in den Himmel zu ihr, bis die Luft kalt wird und knapp, der Glühwurm hinabstürzt und im Meer ertrinkt, im glitzernden Spiegelbild der Geliebten, das zärtlich auf den Wassern schaukelt.

Helmut Krausser: Tagebuch Januar 2001, Reinbek: Rowohlt 2003, Eintrag zum 1. Januar, S.16

Wenn das nicht pathetisch, wenn das nicht schön ist! Interessant sind natürlich auch Kraussers Überlegungen zur Schriftstellerei und da muss ich einfach noch einen ganzen Absatz zitieren, Krausser verzeihe mir!:

Ich glaube, daß Künstler, die ihren Höhepunkt noch nicht erreicht haben, die Welt immer als Lernende erleben, wie groß und anerkannt groß sie auch sind. Von daher unterteilen sie die auf sich einströmenden Phänomene nie in Kategorien, selektieren nicht in würdig meiner oder nicht, sie lassen alles an sich ran, und versuchen, aus dem Geringsten noch Gewinn zu ziehen. Eigentlich eine sehr pragmatische, beinahe vampiristische Haltung, die einiges Selbstbewußtsein voraussetzt.

Helmut Krausser: Tagebuch Januar 2001, Reinbek: Rowohlt 2003, Eintrag zum 4. Januar, S.38

Eine sehr interessante Beobachtung und Bemerkung, finde ich. Aber setzt diese "Lust am Lernen, Aneignen" wirklich Selbstbewußtsein voraus? Setzt sie nicht auch Demut voraus, das Wissen darum, dass man niemals perfekt ist und dass man überall lernen kann, die Demut sich nicht anzumaßen, fehlerfrei in Wichtig/Unwichtig, Gut/Schlecht, Würdig/Unwürdig unterteilen zu können?

Wie dem auch sei, das sind doch schon sehr viele Fundstücke und bedenkenswerte Gedanken für diese ersten, wenigen Tage des Jahres, ich werde mit Freude an meinem Projekt festhalten. Hat jemand Lust mitzumachen? Es ist noch nicht zu spät!

Und wen es interessiert, kann hier noch einmal meine Notizen zu Kraussers drei Poetikvorlesungen an der Münchner LMU im November und Dezember 2007 nachlesen, bitte hier entlang: Krausser I, Krausser II, Krausser III


Meine Einkaufstips für eine tägliche literarische Minimaldosis in diesem Jahr:

Prokrastination

Seit es dafür einen Namen gibt, ist ja alles nicht mehr so schlimm: man kann sich entlastet fühlen durch das Wissen um die Existenz von Millionen Leidensgenossen und geborgen, gerettet und beinahe geheilt durch die genaue Diagnose (Sie kennen das ja sicherlich, dass eine Krankheit bei Diagnosestellung unverzüglich nur noch halb so schlimm ist). Prokrastination heißt nun die verbreitete Angewohnheit, die Erledigung unangenehmer Dinge möglichst hinauszuzögern, aufzuschieben. Es gibt dazu Selbsthilfe-Bücher, Untersuchungen, Ursachenforschung und auch Max Goldt hat darüber geschrieben.

Nur: kennen Sie irgendjemanden, der nicht unter diesem Phänomen leidet? Oder gehören Sie gar selbst zu jener seltenen Spezies, die Opas Ratschlag "Was Du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen!" tatsächlich befolgt?

Ich muss ja gestehen: ich kenne solche Menschen gar nicht, die Unerfreuliches nicht gerne bis zum letzten Moment aufschieben und wahrscheinlich möchte ich solche Leute auch gar nicht kennenlernen. Die Prokrastination mag ja teilweise sehr unerfreuliche Folgen haben (vgl. dazu u.a. Oblomow), aber ist sie nicht auch durch und durch menschlich?

Und ist ein Mensch, der alles sofort erledigen muss, überhaupt noch einer und nicht eher ein seltsamer Roboter? Können solche Menschen noch das Leben genießen, müssen sie nicht andauernd irgendetwas erledigen (denn zu erledigen gibt es ja immer was)? Ist das nicht eigentlich krankhaft, ist das nicht ein Amoklauf des Über-Ichs? Ist ein menschenwürdiges, erfreuliches Leben nicht erst durch das Aufschieben von Dingen möglich?

Ich denke ja, dass die Krankheit Prokrastination – zumindest in den milderen Verlaufsformen – schlichtweg menschlich ist, in ihr veranschaulicht sich die Menschlichkeit geradezu, nämlich die Fähigkeit Gefühle zu haben (wie es übrigens auch das Gähnen macht) – unter anderem eben negative Gefühle, wenn man sich um Unangenehmes kümmern muss. Jeder, der solche Gefühle nicht hat, sollte einem verdächtig erscheinen.

Also: bleiben Sie morgens ruhig länger liegen, gähnen Sie herzhaft, wälzen Sie sich nochmal von einer Seite auf die andere, lassen Sie Ihrem Schweinehund freien Lauf und faulenzen Sie nach Herzenslust herum und vor allem: lesen Sie hier in diesem Blog weiter meine belanglosen Texte, Sie haben meinen Segen, Sie Mensch!

Fang mich

Gestern Kinder kurz beim Fangen-Spiel beobachtet – wie lang schon nicht mehr? Wie sie liefen und sich umspielten und umkreisten und auswichen und antäuschten und Haken schlugen und die Fangenden immer die Arme vor den Körper gestreckt hielten, den Oberkörper nach vorn geneigt, den anderen entgegen und die zu Fangenden ihren Schritt verlangsamten für die Kleineren, wie die Kinder sich zuriefen und lachten und kicherten und sich ihre Wangen röteten in der Winterluft.

Simone und so

Es begann nicht mit ihr, sie kam später, es begann mit Sartre (natürlich). Jean-Paul Sartres Bücher standen im Bücherschrank meiner Eltern und ich begann mit 15, sie zu lesen. Statt in den Ballettunterricht zu gehen, setzte ich mich also fortan in Cafés, las Sartre und trank meinen ersten Kaffee, der mir scheußlich schmeckte, aber das gehörte dazu, undenkbar war es, Sarte ohne Kaffee zu lesen. Ich las die Zeit der Reife und den Aufschub, die ersten beiden Bände der Tetralogie ‚Die Wege der Freiheit‘, schon der Titel eine einzige Verlockung. Und eine Sartre-Biographie stand auch noch im elterlichen Bücherschrank (sie stammte aus einer Zeit, als er noch nicht gestorben war).

Spätestens da muss mir auch Simone de Beauvoir begegnet sein (mit vollem Namen übrigens Simone Lucie-Ernestine-Marie-Bertrand de Beauvoir), die Frau an seiner Seite, die heute 100. Geburtstag hätte, läge sie nicht in Paris begraben, gemeinsam in einem Grab mit Jean-Paul auf dem Cimetière du Montparnasse (den ich natürlich später einmal besuchen musste).

Wenn ich mit 15, mit 16, 17, 18 irgendein Vorbild hatte, dann war sie es. Vielleicht wäre ich lieber wie Sartre selbst ‚gewesen‘, dessen Bücher ich eines nach dem anderen verschlang, den Ekel, die Erzählungen, die Dramen, die Wörter (wobei ich wahrscheinlich nur die Hälfte verstand, nehme ich heute an), dessen Das Sein und das Nichts ich zumindest zu lesen versuchte und dessen Bücher ich schon wegen ihres rot-schwarzen Rowohlt-Einbandes liebte und andauernd mit mir herumschleppte. Aber nachdem er als Mann doch nicht so sehr als Vorbild taugte, wollte ich eben werden wie Simone und las auch ihre Bücher, ihre Autobiographien, Sie kam und blieb, Alle Menschen sind sterblich, Die Mandarins von Paris und kaufte mir irgendwann Das andere Geschlecht (über dessen Beginn ich dann aber doch nicht hinauskam).

Ich wollte gerne leben wie sie und eine Beziehung führen wie die zwischen Sartre und Beauvoir, diese unbedingte, unverbrüchliche, ’notwendige‘ Bindung zwischen den beiden, die sich ein Leben lang gegenseitig siezten und in getrennten Wohnungen oder Hotelzimmern lebten, ohne Kinder und ohne die Einschränkungen der Monogamie, frei. Ich wollte gerne so ein freies Leben für Literatur und Philosophie. Ich beneidete Beauvoir um die Beziehung zu Sartre, um den Pakt und ich beneidete sie um die Freiheit, sich dennoch auch andere Liebespartner genommen zu haben, Männer wie Frauen. Ich lernte, dass ihre große Liebe Nelson Algren hieß, ein amerikanischer Schriftsteller und dass sie Sartre oder eben dem Pakt zu Liebe dennoch auf das Leben an Algrens Seite verzichtete.

Ich lernte, dass ihr Kosename Biber war (frz. castor) und dass sie manchmal durchaus unter Sartres anderen Liebschaften litt (was ich aber nicht wie andere darauf zurückführte, dass sie eben eine Frau war und dass dies bei Frauen so ist, ich halte dies nicht für ‚weiblich‘!). Ich las das Buch von Bianca Lamblin (Memoiren eines getäuschten Mädchens) und lernte, dass Beauvoir manche ihrer Philosophieschülerinnen verführte und diese dann teilweise wieder mit Sartre teilte und dass dies für die ‚Dritten‘ im Bunde sicher nicht immer angenehm war. Ich lernte auch, dass Sartre offenbar ein sehr schlechter Liebhaber war und spätestens da beneidete ich Beauvoir etwas weniger.

Im Studium lernte ich wieder, welche Rolle Beauvoir für den Feminismus und die Gender-Studies spielte und welche Position sie hier in den Kontroversen einnahm. Sie schrieb in Das andere Geschlecht nicht nur den Satz "Man wird nicht als Frau geboren, man wird es" und brachte damit die Rolle der weiblichen Sozialisation auf den Punkt, sie nahm auch an, dass Frauen und Männer ansonsten gleich sind, gleich sein können, dass es keine angeborenen Unterschiede gäbe. Damit machte sie sich nicht nur Männer zum Feind, sondern auch jene Frauen und Feministinnen, die auf einer grundsätzlichen Verschiedenheit von Männern und Frauen beharren, die ‚EssenzialistInnen‘ (und die dann damit entweder versuchen, Frauen ab- oder aber aufzuwerten als bessere Menschen).

Ich war immer Beauvoirs Meinung. Dass Frauen weder besser noch schlechter sind und kaum anders. Und freute mich darüber, wie sie die Einteilung von Menschen in Männer und Frauen kritisierte und die Konstruktion von Mensch=Mann und Frau=anders:

Die Menschheit ist männlich und der Mann definiert die Frau nicht an sich, sondern in Bezug auf sich. […] Sie wird bestimmt und unterschieden mit Bezug auf den Mann, dieser aber nicht mit Bezug auf sie; sie ist das Unwesentliche angesichts des Wesentlichen. Er ist das Subjekt, er ist das Absolute: sie ist das Andere!

(Simone de Beauvoir: Das andere Geschlecht, Reinbek: Rowohlt 1968, S.10-11)

Ich freute mich, wie sehr sie immer darauf beharrte, einfach ein Mensch zu sein, so dass sie sagen konnte: "Ich hielt mich nicht für eine ‚Frau‘; ich war ich!". Und als ich das Grab von Sartre und Beauvoir besuchte, da nickte ich ihm, der mich so geprägt hat, im Schatten von dessen größerer Bekanntheit sie immer stand, kurz zu, aber den Zettel mit dem schnell notierten Dank legte ich auf ihre Seite des Grabs.

Linktips:

  • Biographie Beauvoirs hier oder hier (mit weiteren Links und ausführlicher Bibliographie)
  • Artikel von Hannelore Schlaffer aus der SZ auf jetzt.de
  • Artikel von Ingrid Galster in der NZZ (via Lotrees)
  • Artikel von Barbara Vinken in der taz
  • Artikel von Christine Pries in der FR
  • Artikel von Julia Foss in der FAZ
  • Artikel von Ursula März zu Simone de Beauvoirs Briefen an Nelson Algren in der Zeit
  • Interessante Artikel von Alice Schwarzer, die mit Simone de Beauvoir befreundet war: hier und hier (und hier auch noch ein Interview mit Alice Schwarzer zum Thema)
  • Fotos von Simone de Beauvoir.
  • Beauvoir-Seite von dieStandard.
  • Zum erst jetzt aufgetauchten und von Le Nouvel Observateur veröffentlichten Nacktfoto Beauvoirs: http://lesekreis.org (das Foto gibt es hier größer/besser)
  • zum Nackfoto jetzt auch ein Artikel in der Zeit von Joachim Fritz-Vannahme, der unter dem Titel ‚Der skandalöse Akt‘ über die Entstehung des Bildes und die Retusche durch den Nouvel Observateur berichtet

Filmtip: Simone de Beauvoir, eine moderne Frau, Dokumentarfilm, Frankreich 2007, Regie: Dominique Gros, am 10.01.08 um 22.40 Uhr auf arte.

Buchtip: Hans-Martin Schönherr-Mann: Simone de Beauvoir und das andere Geschlecht, dtv 2007 (Schönherr-Mann ist auch Sartre-Spezialist und Professor für politische Philosophie an der Münchner LMU).

Mehr Buchtips hier.

nirgends mehr

nirgends mehr

doppeldeckerlichtreihen durch
leuchtstädte des nachts und
Herzensschwere im Dunkel der züge
wieso der mond noch voll wird
wenn’s unten schon blinkt und blitzt
und dennoch nicht
warm wird im herzen und hell
wieso der zug noch fährt und
einen hinträgt wo
man nicht daheim ist
wie nirgends mehr

leichte lichtreihen der doppeldeckerzüge
und der stadthelle vollmond
und fürs Herzdunkel kein Leichtes
in keiner blinkenden nachtstadt
nirgends mehr
wessen licht man auch teilt

Sommersummen

Nur ein Motoren- oder elektrisches Werkzeuggeräusch von weit draußen dringt kurz und gedämpft durch die Balkontür.

Aber ich höre: das Summen einer Hummel nah an meinem Ohr. Ich fühle: Sommersonne warm auf meiner bloßen Haut, da ist Vogelzwitschern und Duft nach Sommer, süß und hitzig, da ist Lust auf ein Picknick oder eine Fahrt ans Meer und ich will sie streicheln, die dicke, pelzige Hummel mit ihrem tiefen Brummen, meinen Sommerboten.

Ich blicke durch die Balkontür und es ist ein kaltklarer, stiller Wintertag mit kühlem Sonnenschein.