Minimale Literaturdosis

Ich habe jetzt, in der Vorbereitungsphase für mein Staatsexamen, einfach keine Zeit, Romane zu lesen, ich habe kaum Zeit, überhaupt etwas zu lesen außer der anstehenden Fachliteratur der deutschen und italienischen Philologie und den Geschichtsbüchern der griechischen Antike und frühen Neuzeit. Um aber dennoch in diesem Jahr zumindest eine tägliche, minimale Literaturdosis zu erhalten und literarisch nicht völlig zu verkümmern, habe ich mir zwei Strategien überlegt:


1. Der Autoren-Kalender 2008 der 42er-Autoren im Uschtrin-Verlag: darin findet sich nicht nur ein Serviceteil für Autoren und die Siegertexte des Putlitzer Preises 2007, sondern auch für jeden Tag die Beschreibung der Todesart eines Schriftstellers. Welcher das war, der eines solchen Todes gestorben ist, darf man selbst erraten oder im Lösungsteil nachschlagen. Das sind ja nun wirklich interessante Informationen. Außerdem gibt es aber auch jede Woche ein literarisches Zitat, das der ersten Woche dieses Jahres, von Charles Joseph Fürst von Ligne, fand ich hochgradig ergötzlich:

Es gibt Leute, die nachdenken, um zu schreiben. Wieder andere schreiben, um nicht nachdenken zu müssen.

Der Kalender gefällt mir jedenfalls sehr gut und erfüllt mehrere Zwecke gleichzeitig: 1. braucht man ja irgendwie einen, 2. liest man jeden Tag die Sterbeart eines Schriftstellers, ein dauerndes memento mori, 3. hilft es gegen meine seltsame Angst, bei steckenbleibenden U-Bahnen, Aufzügen oder in sonstigen Katastrophen- oder Wartefällen ohne Lesestoff zu bleiben, der schlimmstmögliche Alptraum für mich. Deshalb werde ich den Kalender brav mit mir herumschleppen und die Geschichten am Ende für eine solche Notsituation aufsparen.


2. Die zweite Strategie für eine tägliche, minimale Literaturdosis ist, dass ich dieses Jahr zum Krausser-Jahr erklärt und mir vorgenommen habe, alle seine Tagebücher zu lesen. Helmut Krausser hat ja bekanntlich 1992 damit begonnen, jedes Jahr einen Monat lang ein zur Veröffentlichung vorgesehenes Tagebuch zu schreiben, 1992 im Mai, 1993 im Juni, 1994 im Juli und so weiter und so fort, einmal durchs Jahr durch, aber eben über 12 Jahre hinweg (was mir erst jetzt aufgefallen ist: wieso gab es im Jahr 2000 eigentlich kein Tagebuch? vgl. Übersicht unten).

Jedenfalls habe ich einfach am 1. Januar angefangen, mit Helmut Kraussers 1. Januar 2001, ich lese jeden Abend genau den Eintrag, den er zum jeweiligen Tag geschrieben hat und habe vor, das dieses Jahr durchzuhalten. Ich bin jetzt, nach 12 Tagen schon auf viele hübsche Stellen gestoßen, auf alltägliche und sehr persönliche, auf Kommentare zum Schriftstellerleben, zum Wetter, zu Büchern, Musik, Fernsehprogramm und Filmen oder Franka Potente oder z.B. auf eine lyrisch-kryptische:

bis wir betrunken in toten sprachen singen mit den geliehenen stimmen der engel.

Helmut Krausser: Tagebuch Januar 2001, Reinbek: Rowohlt 2003, Eintrag zum 7. Januar, S.56

Es finden sich auch Gedichte von Krausser inmitten des Tagebuchs oder so etwas wie ‚Entwürfe‘:

Der Glühwurm, der sich in Liebe zum Abendstern verzehrt, der sich eines Nachts aufmacht, seiner Geliebten mutig zufliegt, hinauf in den Himmel zu ihr, bis die Luft kalt wird und knapp, der Glühwurm hinabstürzt und im Meer ertrinkt, im glitzernden Spiegelbild der Geliebten, das zärtlich auf den Wassern schaukelt.

Helmut Krausser: Tagebuch Januar 2001, Reinbek: Rowohlt 2003, Eintrag zum 1. Januar, S.16

Wenn das nicht pathetisch, wenn das nicht schön ist! Interessant sind natürlich auch Kraussers Überlegungen zur Schriftstellerei und da muss ich einfach noch einen ganzen Absatz zitieren, Krausser verzeihe mir!:

Ich glaube, daß Künstler, die ihren Höhepunkt noch nicht erreicht haben, die Welt immer als Lernende erleben, wie groß und anerkannt groß sie auch sind. Von daher unterteilen sie die auf sich einströmenden Phänomene nie in Kategorien, selektieren nicht in würdig meiner oder nicht, sie lassen alles an sich ran, und versuchen, aus dem Geringsten noch Gewinn zu ziehen. Eigentlich eine sehr pragmatische, beinahe vampiristische Haltung, die einiges Selbstbewußtsein voraussetzt.

Helmut Krausser: Tagebuch Januar 2001, Reinbek: Rowohlt 2003, Eintrag zum 4. Januar, S.38

Eine sehr interessante Beobachtung und Bemerkung, finde ich. Aber setzt diese "Lust am Lernen, Aneignen" wirklich Selbstbewußtsein voraus? Setzt sie nicht auch Demut voraus, das Wissen darum, dass man niemals perfekt ist und dass man überall lernen kann, die Demut sich nicht anzumaßen, fehlerfrei in Wichtig/Unwichtig, Gut/Schlecht, Würdig/Unwürdig unterteilen zu können?

Wie dem auch sei, das sind doch schon sehr viele Fundstücke und bedenkenswerte Gedanken für diese ersten, wenigen Tage des Jahres, ich werde mit Freude an meinem Projekt festhalten. Hat jemand Lust mitzumachen? Es ist noch nicht zu spät!

Und wen es interessiert, kann hier noch einmal meine Notizen zu Kraussers drei Poetikvorlesungen an der Münchner LMU im November und Dezember 2007 nachlesen, bitte hier entlang: Krausser I, Krausser II, Krausser III


Meine Einkaufstips für eine tägliche literarische Minimaldosis in diesem Jahr:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert