Aimée

ihr Name: Aimée, so musste man sich zu ihr stellen, Geliebte, Süße, im Dorf in Südfrankreich zur Weinerntezeit, Villerouge, ich achtzehn und sie dreißig, alt damals, für mich, reif, Herbst, dunkelbraunes, gewelltes Haar, fällt auf ihre Schultern, braune Augen, schlanke Größe und schön, so schön, Gesicht, strahlend, Strahleblick, ihre Augen, leuchtend, sehr dunkel und so groß, tief, Mund, wie reife Trauben, prall, saftig, diese Lippen, voll und weich, zartrot, ganz glatt, Kussmund, Herzmund, herbstlich-reif, Lippen zum niemals wieder vergessen, zum sich auf ihnen vergessen, ein Lächeln zum Niederknien, Niedersinken, vor ihr, sogleich verliebt, in sie, ein Küssenwollen, sofort, als wir uns erstmals trafen, trotz der Gedanken an Aimées verrückten Vater, früher, bei meinen Großelternbesuchen, als kleines Mädchen, kindliche Furcht vor ihm, Verrückter, fou-fou, der Vater, durch die Gassen schleichend, traurig gekrümmt, sinnloses Stammeln, Hundebellen, sein Zischen, immer Hunde um ihn, struppiges Fell, verdreckt, räudig, Augen blutunterlaufen, Zungen hängend, Zähne gefletscht, sein Rufen, den Hunden zu, sein wahnsinniger Blick, bedrohlich, mein Verschwindenwollen in der Häuserwand, drehte mich um, ganz langsam, und dann weglaufen, wegrennen, nur fort, fort von ihm, der Frau und zwei Kinder verlor, beim Unfall saß er am Steuer, übriggeblieben: Aimée und ein Bruder, Dorfgetuschel, der sei schwul, auch von ihr wissen es alle, hatte es selbst schon flüstern hören, über Zusammenhänge mit dem Unglück rätselnd, böse Zungen, Aimée war in die Stadt geflohen, vor dem Raunen, dann, viel später, zur Weinerntezeit in Villerouge, nach dem Aufstehen vor Sonnenaufgang, Eindringen erster Schrägstrahlen in den dunklen Himmel, Morgenkühle in den Gliedern, Frösteln, zu acht im Laderaum des umgebauten Lastwagens, auf harten Holzbänken, ihr Namennennen und der sofortige Gedanke: die Lesbe und wollte mich ohrfeigen dafür, Aimée mir gegenüber, Zuckermund im Halbdunkel, ihr Lächeln strahlt, sie sieht mich so an, eng, unsere Knie berühren sich beinahe, nur beinahe, kein Zusammenstoß, trotz Ruckeln des Wagens über Feldwege, die Feuchte des Weinbergs am Morgen, Geruch nach nasser Erde und reifen Trauben, Farbpracht des Herbstlaubs, dann Hektik, Angst vor dem Falschmachen, vorm Langsamsein, Schnellerwerden des Arms, dessen Verlängerung die Schere, der Schweiß unter den Handschuhen, Schwererwerden des Eimers, immer wieder Leeren und weiter, nur manchmal, leise, ihr Blick in meinem Nacken, wie die Sonne, die erst hervorkriecht und trocknet, dann wärmt, dann sticht, dann brennt, wie der Rücken zu stechen, die Beine zu brennen beginnen bei jedem Bücken, so beginne ich zu brennen für sie, aber kein Wortwechsel, mit ihr, Aimée, an den ersten Tagen, dann die Einladung zum Essen, von ihr, kümmert sich, denn meine Eltern sind nicht da, süße Luft an diesem Abend im Dorf, bei der Rückkehr vom Feld, süß, blutig und tot, vom Wildschwein, das groß und dunkel in einer Gasse liegt, Jagdsaison, der Geruch macht die Luft schwingen, ein rotes klebrig-dickflüssiges Rinnsal läuft das Sträßchen hinab, nur ein Blick von ihr, dann in meine Augen, ich sagte sofort Ja, Ja, Ratatouille, sie so mütterlich, reif, Rosmarinduft und Thymian, Tomatensoße dick und dunkel wie Wildschweinblut, dunkelrot wie reife Trauben, zum Nachtisch – mein erster Gedanke schon beim Eintreten – wir, wir, mehr Blicken als Essen, unsere Augen verschlingen sich gegenseitig, mit Blicken verschlingen wir unsere Münder, unsere Münder das Ratatouille, kauen, beißen und denken ans Küssen, Gier nach anderem, Hungrigerwerden statt satter, hungrig nach Berührungen, dann, ohne dass wir es bemerken, ein Kuss, uns an den Händen haltend, süße Frauenlippen auf meinen, wie reife Trauben, prall und weich, ein Zusammenstreben jeder unserer Fasern, hin zum Verwandten, Brüste auf Brüsten, voll wie überreife Trauben, unvorstellbare Weichheit, Neugier auf Nie-Erfahrenes, Aimées Augen, Aimées Mund, Aimées Lächeln, Aimée, neu, Geschmack nach Traubensaft, süß, Haut an Haut, zart, weiter unten Geschmack nach Traubenmost, noch süßer und vergorener, ihr Geruch in meiner Nase, neu, ihr Saft an meinem Mund, ihr Flüstern, wie schön Du bist, sagt sie mir immer wieder, immer wieder, wie schön ich bin, zwischen Küssen, Glück durchpulst mich, mein Blut vibriert in mir, beim Abschied, Dorfnacht und immer noch süßer Geruch nach Wildschweinblut, dann fragt sie doch noch, in der Tür: ob ich einen Freund hätte, ich sehe ihre Augen dunkler werden, es sind die wahnsinnigen Augen ihres Vaters, die mich anblicken, ich höre Hundebellen, will verschwinden in der Häuserwand vor Scham, nur ein Moment, bedrohlich, will wegrennen, ich rieche Wildschweinblut, dann der traurige Blick ihres verrückten Vaters in ihrem, gebeugt, Türenschließen und kühle Tränen auf meinen Wangen, drehe mich um, ganz langsam und kein Wortwechsel mehr, nur noch manchmal Aimées leiser Blick in meinem Nacken, weinerntend, kein Wiederberühren, kein Wiederküssen, nie

3 Comments for “Aimée”

Sprachspielerin

says:

nun ja, die Weinernte habe ich tatsächlich mal in Südfrankreich mitgemacht, aber der Rest, ganz klar: nicht erlebt, ’nur‘ ausgedacht! Wie ich ja auf meiner Startseite schreibe: meine Texte sind nicht unbedingt autobiographisch!

Norman Liebold

says:

Das Autobiographische ist stets ein Fluch, nicht wahr? Das Schlimme: Jedes Wort ist autobiographisch, aber irgendwie will niemand verstehen, was das heißt und sucht und wühlt immer nur nach Gürtellinien…

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