Morgens und abends

Wenn ich morgens aufstehe, dann bin ich fast immer voller Lebensmut und Tatendrang. Wenn ich abends ins Bett gehe, dann meist erschöpft und traurig, mit dem Gefühl, Zeit vergeudet, nichts geschafft zu haben und meine Prüfungen nie im Leben bestehen zu können, mit einem Herzen wie eine Wasserbombe: ein klitzekleines Pieksen in die dünne Plastikhaut bringt es zum Platzen und die Tränen zum Überlaufen. Meine Nerven waren nie die stärksten, aber dennoch frage ich mich, was da zwischendrin, zwischen morgens und abends, an solch einem Tag mit mir geschieht.

Mich interessieren die Dinge, die ich lernen muss, ich mag sie, ich arbeite mich anfangs mit Begeisterung durch die Literaturgeschichte, mir gefallen die theologischen Wirren der Reformationszeit und die sozialen des Bauernkriegs, ich schätze Kriemhild, Kudrun und Gyburc und übersetze mit großer Freude aus dem Mittelhochdeutschen, ich entdecke mit viel Interesse die Griechen wieder, die ich seit der Schulzeit so schmählich vernachlässigt habe, am liebsten würde ich mich sogleich über Homer hermachen und die griechischen Lyriker wieder im Original lesen, nichts lieber als das. Und ich weiß auch, dass es in gewisser Weise sogar ein Luxus ist, mich den ganzen Tag lang mit solchen Dingen beschäftigen zu dürfen, tief in Geschichte und Literatur einzutauchen, ich weiß, dass mancher gerne mit mir tauschen würde (statt arbeiten zu gehen).

Was mich aber einerseits stört ist die Begrenzheit der Zeit und die Masse an Stoff, die es mir verbieten, mich tiefer in Einzelheiten einzuarbeiten, mir verbieten, mich zu spezialisieren, nachzufragen, nachzuforschen. Ich soll alles wissen, im Staatsexamen kann man mich alles fragen. Aber mir liegt nicht die Weite des Wissens, nicht die Oberflächlichkeit, mir liegt mehr die Vertiefung und der Perfektionismus im Kleinen, den ich mir jetzt austreiben muss. Ich muss mich selbst andauernd davon abhalten, mich in Details zu verlieren und noch dieses und jenes nachzusehen, denn ich muss einfach durch den Stoff durch! Und es fällt mir schwer zu akzeptieren, dass ich in die Prüfungen werde gehen müssen und nicht alles wissen werde.

Und andererseits ist es einfach dieses ‚Muss‘, das schon jeden Morgen wie ein Damoklesschwert über mir hängt und irgendwann, mitten im vergnüglichen Lesen und Lernen auf mich niedersaust, mir die Unfreiwilligkeit meines Tuns vor Augen führt und mir so jede Lust nimmt. Sobald ich mir vergegenwärtige, dass ich nicht anders kann, als jetzt auf Teufel-Komm-Raus zu lernen, keine Wahl habe, werde ich böse und bockig und mag nicht mehr. Warum nur bin ich so gemacht, dass mir alles, was ich ‚muss‘ sogleich weniger Freude macht, dass sich dagegen in mir ein Trotz aufbaut, ein kindlicher, der irgendwann ausbricht und mich die geliebten Bücher verfluchen lässt?

Hätte ich doch nicht so viele Existenzialisten lesen sollen, um diesen Willen zur Freiheit, zur Freiwilligkeit, der mir jeden Tag das Lernen verdirbt, nicht noch zu stärken? Was tue ich gegen diesen Widerspruchskobold, der in mir hockt und immer ‚aber‘ sagt oder ’nein‘ ruft? Neuerdings hängt ein Spruch von Goethe über meinem Schreibtisch:

"Beim Muss kann der Mensch allein zeigen, wie’s mit ihm steht. Willkürlich leben kann jeder."

Soso. Mal sehen, ob’s hilft. Und viel leichter wäre es ja auch, wenn ich mich jeweils auf eine Sache konzentrieren könnte, ohne mich um anderes zu sorgen, wenn ich mich mit Dramentheorie beschäftigen könnte, ohne mir zeitgleich Sorgen um das Examen in Geschichte zu machen. Und überhaupt ginge alles viel schneller und besser, wenn ich mir nicht so viele Sorgen machte, die ganz unnütz sind und mich kein Stück weiterbringen. Aber wie stellt man die ab?

Also jeden Tag ein Ringen mit mir, bis zur Lustlosigkeit, bis zur Erschöpfung, bis zur Weinerlichkeit, jeden Tag, bis der widerspenstige Gnom in mir losplärrt und mein Herz zur Wasserbombe macht. Jeden Tag ankämpfen gegen meinen Perfektionismus, gegen die Sorgen, gegen das ‚Müssen‘ und gegen andere Ablenkungen sowieso. Und das noch bis Ende Juni. Ich darf gar nicht daran denken, wie lange das noch ist, Gottlob bin ich schlecht im Rechnen.

Was hilft, das sind die Narzissen, die auf meinem Schreibtisch stehen, ich hatte den intensiven Geruch von Narzissen ganz vergessen. Was hilft, das ist eine Umarmung und das Essen, das mir ein lieber und vielgeliebter Mensch liebevoll kocht und bäckt. Was hilft, sind die beiden VW-Käfer, die genau vor meiner Haustür stehen, einer golden, der andere narzissengelb, Stoßstange an Stoßstange, als würden sie sich aneinanderkuscheln und schmusen.

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Was hilft, ist immer wieder das Schreiben, das freiwillige, das mich trotzdem aufrecht gehen lässt. Was hilft, ist ein wenig jammern und getröstet werden. Was hilft, ist viel Schokolade, heißer Tee und ein heißes Bad. Was hilft, ist immer wieder Musik, zum Beispiel einer der allerbesten Songs, die ich kenne, Dilaudid  von The Mountain Goats. Das Lied heißt nicht zufällig ‚Dilaudid‘ wie ein Schmerz- und Betäubungsmittel. Bitte das Video einfach nicht beachten, aber die Liveaufnahmen des Songs sind alle deutlich schlechter als das Original, also nur hinhören, aber laut aufdrehen:

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