Vom Weinen

Weshalb wir gähnen, ist uns vor kurzem sachkundig erklärt worden. Aber das mit dem Weinen ist beinahe noch komplizierter. Wieso, wann, was passiert da? Die banalste Erklärung ist natürlich: zu viel Tränenflüssigkeit, die muss ja irgendwo hin, also läuft sie eben über. Dass dies bei Menschen (aber vielleicht nicht nur bei Menschen) oft mit emotionaler Erregung einhergeht, ist auch bekannt. Dass es sich vor allem auch um ein Signal für andere Menschen handelt, einen Appell an deren Gefühle, ist unbestritten. Dennoch kann und wird ja auch allein geweint und Tränen wirken dabei vielleicht wie ein körpereigenes Beruhigungsmittel.

Aber wo kommen all diese Tränen dann so plötzlich her? Wieso ‚macht‘ die unser Körper auf einmal und wo? Im Mittelalter glaubte man ja (wie man in vielen höfischen Romanen und Epen nachlesen kann), dass die Tränen im Herzen entstehen und von dort aufsteigen, ihren Weg vom Herzen aus durch den Körper über eine direkte Verbindung zu den Augen nehmen und dort dann hinausfließen. So heißt es im Willehalm Wolframs von Eschenbach zum Beispiel:

Sus saz diu klagende vrouwe
mit dem herzen touwe,
daz uzer brust durh diu ougen vloz,
ir liehten blicke ein teil begoz.

So saß die klagende Dame
im Tau ihres Herzens,
der aus ihrer Brust in die Augen trat
und ihr klares Antlitz netzte.

Wolfram von Eschenbach: Willehalm, de Gruyter 2003, 268,2-5, Übersetzung von Dieter Kartschoke

Schön, oder? Und im Mittelalter durften auch Männer weinen, nein, sie mussten geradezu, um Trauer angemessen nach außen zu zeigen (neben Händeringen, Haareraufen und Klagen). Aus dem Herzen kommen die Tränen also, über einen extra ‚Tränenkanal‘. Das will mir doch eigentlich mehr einleuchten als andere, neuere Erklärungen. Obwohl mir das mit dem ‚Herzenstau‘ als körpereigenem Beruhigungsmittel, schmerzlindernd, gar morphiumähnlich, auch gefällt. Könnte man vielleicht Döschen und Tütchen vollweinen und dann teuer auf dem Drogenmarkt verkaufen? Das wäre doch mal eine neue Erwerbsquelle!

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